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- 19. Mai 2010 3 Min.
Ein Kommentar zur erneuten Diskussion über das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen
Von Eberhard Zastrau
Rund hundert Menschen besuchten am vergangenen Montag abend eine Diskussion im "Ort der Information" unter dem Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Trotz eher geringer Werbung waren sie gekommen, deutlich mehr Frauen als Männer, aber das kann eben auch der Art geschuldet sein, wie eingeladen wurde.
Bei der Diskussion ging es gar nicht mehr um Erinnerung oder Gedenken. Der Stiftungsdirektor der Brandenburgischen Gedenkstätten Günter Morsch stand auf verlorenem Posten mit seinem Bemühen, wenigstens die historischen Fakten gewürdigt zu wissen. Die Berichte über die Diskussion in der Süddeutschen Zeitung und in der Frankfurter Allgemeinen spiegelten das wider mit der FAZ-Überschrift: "Abschiedskuss für die Geschichte".
Unwissenheit ist Stärke
Unwissenheit ist Stärke – das schien das Motto für viele Anwesende. Besonders deutlich trat das in den Äußerungen Chantal Louis' hervor, die anstelle der Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer auf dem Podium saß. Zwar betonten die drei Frauen auf dem Podium immer mal wieder die Unterschiede in den Schicksalen schwuler Männer und lesbischer Frauen in der Nazi-Zeit, doch dann kamen erneut die verqueren Verweise auf eine angebliche Verfolgung lesbischer Frauen – an diesem Abend mit den wissenschaftlich unhaltbaren Beispielen von Helene G. (ursprünglich von Kokula kolportiert), Lotte Hahm und Elsa Conrad (Schoppmann wies bei beiden auf die wirklichen Verfolgungsursachen hin). Die beiden letzten wurden nicht einmal namentlich genannt. Es blieb dem Sachsenhausen-Forscher Joachim Müller überlassen, den wissenschaftlichen Ruf Schoppmanns zu retten.
Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit
Eine bemerkenswerte Rolle in der Diskussion spielte Klaus Müller, der Initiator des Films "Paragraph 175", der inzwischen für das US-Holocaust-Mermorial-Museum arbeitet. Er berichtete kurz über eine Luftballon-Aktion an der Denkmal-Stele, die kurz vor der Veranstaltung stattgefunden hatte: Zum Internationalen Tag gegen Homophobie hatten sich dort aus Osteuropa stammende Homosexuelle eingefunden, um die Kulisse dieses Denkmals für den Protest gegen die aktuellen Menschenrechtsverletzungen in Ländern des einstigen kommunistischen Staatenblocks zu benutzen. Männer waren bei der Aktion allerdings nur in verschwindender Zahl anwesend. Müller geriet diese Aktion zum leuchtenden Beispiel für die Akzeptanz des Denkmals für ganz gegenwärtige Zwecke. Und auch die vierte Podiumsdiskutantin Claudia Lohrenscheit vom Deutschen Institut für Menschenrechte machte sich die gegenwartsbezogene Perspektive des eigentlichen Geschichtsdenkmals völlig zu eigen.
Gedankenverbrechen
Schon zu Beginn der offenen Diskussion wies die Moderatorin Lea Rosh darauf hin, dass Beiträge nicht erwünscht seien, die das Wissen der Veranstaltungsteilnehmer hätten verbessern können. Fragen seien zulässig, längere Informationen würden nur stören. So blieb unausgesprochen, dass organisiertes lesbisches Freizeitvergnügen bis weit in die Kriegsjahre hinein unter den Augen der Gestapo aber unbehindert hatte gefeiert werden können. Die klare Unterscheidung blieb im Ungefähren, dass Männer wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurden, Lesben aber wegen ihrer jüdischen Herkunft, ihrer politischen Auffassungen bzw. ihres Widerstands oder aber wegen krimineller Handlungen, die jede heterosexuelle Frau dem gleichen Schicksal ausgesetzt hätten.
Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
Die Veranstaltung hat ein weiteres Mal versäumt, "per scientiam ad iustitiam" vorzudringen, wie es der vor 75 Jahren gestorbene Magnus Hirschfeld forderte. In einer Anlehnung an seine Forderung wäre es in diesem Konflikt darum gegangen, mit wissenschaftlicher Redlichkeit zu einer sachgerechten Bewertung der Verfolgungsgeschichte zu gelangen. Das war nicht gewollt. Gewollt war eine Alibi-Veranstaltung mit möglichst wenigen zum Widerspruch bereiten Teilnehmern, die die "Gutdenker" in ihrer gezielten Ignoranz hätten stören können. Die Chance, die verpasst wurde, hätte darin bestanden:
Die Wahrheit auszusprechen in Zeiten universellen Betrugs, ist eine revolutionäre Tat.
P.S.: Die fett markierten Zwiischenüberschriften sind Zitate George Orwells u.a. aus "1984".
