Animierte Grafik auf der Homepage von Looks e.V.
Immer mehr Notlagen-Sexarbeiter halten sich in Köln auf, viele davon kommen aus Osteuropa. Ein Besuch beim Kölner Stricher-Projekt Looks e.V.
Von Dennis Klein
"In Köln gibt es ungefähr 1000 Jungs, die anschaffen gehen. Wir erreichen von ihnen ungefähr 500 pro Jahr", erklärt Sabine Reinke, seit über zehn Jahren Geschäftsführerin des eingetragenen Vereins Looks. In einem unscheinbaren 50er-Jahre-Bürogebäude in der Altstadt hilft sie mit ihrem kleinen Team aus Sozialarbeitern hilfsbedürftigen männlichen Prostituierten - oder wie es hier heißt: "Jungs, die der Notlagenprostitution nachgehen". In den Räumlichkeiten im zweiten Stock sieht es nach größtenteils nach einem üblichen Büro aus, ein Korridor führt zu mehreren Arbeitszimmern mit vollbeladenen Schreibtischen. Ein halbes Dutzend Wasserkästen engt den Gang ein, darüber warnt ein Poster mit der Aufschrift "Quit the Shit" vor Cannabiskonsum. Daneben liegt ein kleines Badezimmer mit Dusche sowie eine winzige Küche, am anderen Ende befindet sich das größte Zimmer: ein rund 30 Quadratmeter großer Aufenthaltsraum für die Jungs. An einer Ecke steht ein großer Esstisch, an der anderen ein Schreibtisch und ein Bett.
Für die Jungs ist der Verein zwei Mal die Woche eine feste Anlaufstelle. Dienstags- und Donnerstagsnachmittag greifen in der Regel 15 bis 25 Jungs auf das Angebot zu. Dort essen sie gemeinsam mit den Sozialarbeitern und Pädagogen, die so in familiärer Atmosphäre mit ihren Klienten ins Gespräch kommen. Die Essenszutaten werden von der Kölner Tafel angeliefert, einer Sozialeinrichtung, die Essen an Bedürftige verteilt. "Wir versuchen, Verelendung zu verhindern", beschreibt Reinke ihre Arbeit. Das bedeutet: Die Jungs sollen hier die Möglichkeit erhalten, zu duschen, Wäsche zu waschen und sich auszuruhen. Auch erhalten sie kostenlos Kondome und Gleitgel sowie eine medizinische Grundversorgung; ein Arzt berät sie regelmäßig anonym und bietet Tests für sexuell übertragbare Krankheiten an.
Viele denken, dass Stricher gut verdienen
Brauchen die Jungs so viel Beistand? Diese Frage treibt offenbar immer wieder die Kölner um, wenn die Lokalpresse über Looks e.V. berichtet, weiß Reinke: "Dann hagelt es Anrufe, dass wir Steuergelder verschwenden". Dabei würden viele Leute denken, dass Stricher ja ohnehin gut an ihren Kunden verdienen. Dem ist aber meist nicht so: "Viele haben vielleicht ein Mal in zwei Wochen einen Freier. Je nach Notlage ist man auch bereit, mit den Preisen weiter runterzugehen - oder ungeschützten Sex zu haben. Das ist leider üblich in der Szene", erzählt Reinke.
Immer wieder trifft sie neue Jungs, die neu in die Stadt gekommen sind. "Den klassischen Stricher gibt es zwar nicht, aber es gibt Merkmale, die viele gemein haben". Sie erklärt, dass die Notlagenstricher hauptsächlich drei Gruppen zuzuordnen sind: Erstens die Gruppe der Schwulen, die in instabilen Verhältnissen aufgewachsen sind. Viele von ihnen haben die meisten Zeit ihres Lebens in Heimen verbracht. Viele Klienten haben kein gutes Coming-out gehabt. In der Stricherszene kann das aber gelebt werden", berichtet Reinke. Zweitens die Gruppe mit "pädokriminellen Vorerfahrungen". Reinke: "Wenn sie zu alt und uninteressant für den pädokriminellen Täter geworden sind, dann ist der Schritt in die Prostitution sehr naheliegend, weil die Vergangenheit noch nicht verarbeitet wurde". Bis zur Hälfte der Notlagenstricher sind Opfer dieser Täter geworden, schätzt Reinke. Dabei gibt es Überschneidungen zur dritten Gruppe, die inzwischen rund zwei Drittel aller Looks-Klienten ausmacht: Jungs mit Migrationshintergrund. Ihr Anteil hat sich in den vergangenen Jahren, insbesondere seit Öffnung der EU nach Osten, stetig erhöht.
Viele ausländische Stricher müssen ihre Familien ernähren
Die meisten stammen aus Dörfern in Osteuropa, berichtet Reinke. Die bettelarmen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen steuern Deutschland ursprünglich in der Hoffnung an, im Bau oder auf dem Gaststättengewerbe zu arbeiten. Sie sollen nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familien zu Hause ernähren. Allerdings konkurrieren sie hier immer mehr mit dem deutschen Niedriglohnsektor, der in den vergangenen Jahren immens ausgebaut wurde. Eine formale Ausbildung haben sie nicht - zumindest keine, die hierzulande anerkannt wird. Den Jungs bleibt dann nur der Straßenstrich, obwohl sie selbst of heterosexuell sind.
Die zweitgrößte Gruppe der ausländischen Stricher kommt aus Lateinamerika. Diese Jungs reisen meist über Spanien in die EU ein. Sie haben häufig einen anderen Beweggrund als Migranten aus Osteuropa: Viele schwule Südamerikaner wollen dem dort verbreiteten Machismo entfliehen. Tatsächlich ist - trotz des hippen Images von Rio und Co. - schwules Leben dort meist nicht möglich. Aber auch sie leiden oft unter Geldnot, und bleiben so in der Szene verhaftet. In Brasilien notierte eine schwul-lesbische Menschenrechtsorganisation etwa 190 Hass-Morde an Homo- oder Transsexuellen allein im Jahr 2008, die Dunkelziffer wird um einiges höher liegen. Einheimische Aktivisten warnen daher in den Medien vor einem "Homocaust".
Auch minderjährige Stricher kommen zu Looks
Immer mehr Stricher halten sich daher in Köln auf. Dabei gibt es auch immer wieder Minderjährige, die bei Looks auftauchen. Gerade den Jüngeren will der Verein helfen, aus dem Bereich auszubrechen: "Wir gehen davon aus, dass jemand das in jungen Jahren körperlich und physisch nicht unbeschadet überlebt", so Reinke.
Die Jungs zu erreichen, ist jedoch harte Arbeit. Dabei verlassen sich die Looks-Leute nicht nur auf Mund-zu-Mund-Propaganda in der Szene, Streetworker tauchen selbst in die Lebenswelt der Jungs ein. In Köln gehen sie in die alteingesessenen Stricherkneipen der Altstadt, erkundigen sich in Clubs, Agenturen oder Pornokinos, ob sie dort unter anderem mit Aids-Präventionsarbeit vor Ort helfen können. Auch hier gehört das Verteilen von Kondomen zu einer der Hauptaufgaben
Denn HIV ist noch immer eines der größten Gefahren der Szene. Gerade die ausländischen Jungs, die noch nie eine der deutschen Präventionskampagnen erlebt haben, wissen erschreckend wenig über das Virus: "Wir haben es mit Menschen und Mythen zu tun. So spritzen sich viele Osteuropäer Paraffin in den Schwanz", erklärt Reinke. Paraffin wird etwa als Lampenöl verwendet, auch Feuerspucker schätzen die Brennbarkeit des Stoffes. In den Penis gespritzt kann das Kohlenwasserstoffgemisch allerdings gefährliche Infektionen auslösen. "Sie glauben, dass mit dem Zeug die Männlichkeit verstärkt wird. Es kursieren auch Ammenmärchen, dass das gegen HIV schützt. Da müssen wir die Jungs aufklären, ohne sie als rückständig zu behandeln".
Die große Angst vor den Behörden
Für viele Jungs erscheinen außerdem scheinbar banale Probleme des Alltags unüberwindlich. "Keiner traut den Behörden, wenn er weder Krankenversicherung noch Personalausweis hat und nicht weiß, wo er morgen schlafen soll.", so Reinke. Selbst "etabliertere" Stricher hätten Vorbehalte, da sie Angst vor Besuchen von Ordnungs- und Finanzamt haben. Da nützt es nichts, dass seit einer Gesetzesreform im Jahr 2002 Prositution nicht mehr sittenwidrig und damit ein Job ist, bei dem man Zahlungssäumige notfalls auch verklagen könnte. Reinke sagt, dass dies gestandenen Sexarbeitern mit Steuernummer und Berufsunfähigkeitsversicherung hilft, nicht aber ihren Jungs: "Unsere Klienten leben so außerhalb der Systeme, dass diese Gesetze für sie vollkommen irrelevant sind." Meisten hätten diese ohnehin keine Strichermentalität. "Die sagen sich: 'Ich halte mich in der Szene auf, übernachte bei jemandem, muss dann ein bisschen Sex machen und krieg etwas Geld'. Sich selbst würden sie nie als Prostituierte bezeichnen". Sie nennen sich einfach "Jungs".
Looks e.V. versucht, den Jungs zurückzuhelfen in ein "normales" Leben. So gibt der Verein Unterstützung, Papiere für die Anmeldung einer Wohnung zu beschaffen. Andere Jungs erhalten regelrechte Trainingsstunden, wie sie sich durch den Behördendschungel schlagen. So könnten viele etwa eine Grundsicherung durch Hartz IV erhalten, beantragten diese aber nicht - oft aus Unkenntnis oder Scham. Außerdem stammen viele aus sozial schwachen Verhältnissen oder dem Ausland und leiden daher unter Lese- und Rechtschreibschwächen.
Der Ausstieg aus der Szene ist schwer
Ein Ausstieg aus der Stricherszene ist aber selbst mit allen Papieren schwierig: "In der Szene finden eben die sozialen Bezüge statt", berichtet Reinke. "Dort kann man leben und muss sich nicht verstecken. Deshalb ist es schwer, dort rauszukommen." Im neuen Leben angekommen ist es für Aussteiger schwierig, dieses Leben zu erhalten. So hat mancher seine Wohnung schnell verloren, weil Kleinigkeiten schiefgelaufen sind. Einer erschien etwa nicht zu einer Hartz-IV-Maßnahme, musste Kürzungen an seinen Bezügen hinnehmen und konnte die Wohnung dann nicht mehr bezahlen. Auch Drohbriefe von Inkassobüros führen zu Panikreaktionen. "Das normale Leben wird als sehr anstregend erlebt", beschreibt Reinke die Situation.
Das Hilfskonzept von Looks, das ähnlich auch in anderen Großstädten angeboten wird, ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Teilweise wird es aus kommunalen Mitteln aus den Bereichen Gesundheit und Jugend gefördert. Die Mittel reichten allerdings nicht aus, um die Infrastruktur bereitzustellen. So könnten die Streetworker noch mehr Jungs erreichen, wenn sie ausreichende Mittel zur Verfügung hätten. Looks ist daher auf Spenden angewiesen; der Erlös lässt aber zu wünschen übrig, erklärt Reinke: "Leider spenden nicht so viele Leute für eine Einrichtung, die mit Menschen arbeitet, die anschaffen gehen. Viele denken, dass sie viel Geld verdienen würden, was einfach nicht stimmt". Ein weiteres Problem: Es ist einfach gesellschaftlich eher angesehen, sich für Kinder, Senioren oder notleidende Tiere einzusetzen als für Stricher.