Das Cover erinnert zu Unrecht an den Film "Sommersturm": Chuck und sein bester Freund Toby sind hetero
Jetzt neu als Taschenbuch: Günter Ohnemus' Jugendroman "Alles was du versäumt hast" über eine mehrsprachige Regenbogenfamilie.
Von Angelo Algieri
"Pop. ist. schwul." Mit diesen Worten kündigt der 15-jährige Chuck in einem Brief an seinem gleichaltrigen besten Freund Toby an, was ihm sein Adoptivvater - genannt Pop - offenbarte. Zuerst musste Chuck darüber lachen, dann war er sprachlos. Das steht nach drei Viertel des Buches im Jugendroman "Alles was du versäumt hast" von Günter Ohnemus. Um nichts zu verpassen, schreibt Chuck seinem im Koma liegenden Freund Toby alles auf, was er erlebt. Toby soll seine Briefe nachlesen, wenn er wieder aufwacht. Besuchen kann Chuck ihn nicht, denn Toby ist mit seiner Mutter vor Monaten von München nach Köln umgezogen.
Zurück zur Regenbogenfamilie: Nicht nur der Vater steht aufs gleiche Geschlecht, sondern auch die aus New York stammende Mutter. Der Vater möchte seine Homosexualität allerdings nur an diesem Abend mit dem Sohn bereden. So wirft Chuck seinem Vater Feigheit vor: Er hätte es ihm früher sagen sollen. "Ein Haufen Leute gehen doch raus und erzählen jedem, ders hören will, dass sie schwul sind.", unterstreicht Chuck. Dem entgegnet der Vater, dass er keine Publicity brauche à la Klaus Wowereit ("Ich bin schwul - und das ist auch gut so!") - er halte es wie der bekannte amerikanische und schwule Autor Gore Vidal, Jahrgang 1925: "Ein Gentleman meiner Generation geht mit seiner Sexualität nicht hausieren." Persönlicher wird der Vater nicht: Allenfalls, dass er nicht wie eine Tunte geht, steht oder redet. Und das war schon im Groben die ganze Information, die Chuck bekommt.
Doch es bleiben Fragen offen.
Chuck interessiert sich nicht für Pops Schwulsein
Warum interessiert sich Chuck nicht weiter für Schwule? Er hätte eventuell aus Neugierde sich in ein Szenecafé im Glockenbachviertel setzenund beobachten können. Wie begegnet Chuck väterliche Umarmungen mit dem jetzigen Wissen, dass der Vater schwul ist? Solche ersten emotionalen Neubewertungen finden nicht statt - auch um sich mit ihr auseinanderzusetzen und um sie so zu überwinden. Des Weiteren stellt sich die Frage, warum der Vater seinem Sohn keine schwulen Freunde oder seinen Freund/Lebensgefährten vorstellt. Eigenartig zudem, dass Chuck sich nicht an irgendwelche "Onkel" erinnert, die er im nachhinein als mögliche Freunde seines Vaters interpretieren könnte. Wie etwa im Roman "Eskorta" vom slowakischen Autor Michal Hvorecky: Hier lernt der Sohn von klein auf die "Tanten" und "Onkel" seiner lesbischen Mutter und seines schwulen Vaters kennen.
Neben der Homosexualität bietet Autor Ohnemus eine ganze Palette von anderen Themen an: Chucks erste Liebe zu Anna beispielsweise. Er schildert Toby, wie er sie kennengelernt hat, wie gern er sie hat und wie er sie nach einem Tag sehr stark vermisst. Um gleich auf den Punkt zu kommen: Chuck beschreibt seinem besten Freund keine Sexszenen - unverständlich für einen Jungen, der seine ersten Liebesgefühle entdeckt. Andeutungen, wie Chuck mit seiner Freundin Kondome kauft, reichen selbst in einem Jugendbuch heutzutage nicht aus!
Eine Überfrachtung von Themen?
Günter Ohnemus, Jahrgang 1946, lebt als freier Autor und Übersetzer in Freising (Bild: Raimund C. Ohnemus)
Weitere Themen sind: Adoption, Freundschaft, mehrsprachige Familie, bürgerliches Haus, Sterben und Tod, Reflektieren und Debattieren, Schule, Alkoholismus ... Ohne Hehl: Eine Überfrachtung von Themen - wenn es ein anderes Genre wäre! In einem Jungs-Jugendroman finde ich das Ansprechen von vielseitigen Themen zutreffend. Denn die meisten Jungs lieben das Abenteuer - unabhängig ob geistig oder körperlich. Der Autor bietet so den Jugendlichen über bestimmte Themen eigenständig nach- und weiterzudenken.
Der preisgekrönte Günter Ohnemus - er erhielt u.a. 1998 den Tukan-Preis der Stadt München für seinen Roman "Der Tiger auf deiner Schulter" - trifft auf der einen Seite die Leselust seines Jungspublikums. Auf der anderen Seite jedoch sind die Reaktionen seiner Figuren teils fern der Realität. Jugendliche können sich mit dem Ich-Erzähler Chuck nur vage identifizieren: Es fehlen die Benutzung von neuen Medien, Sex wird ausgespart und entscheidende Themen nicht vertieft - siehe die oben erwähnte Homosexualität des Vaters.
Gerade mit der mehrsprachigen Regenbogenfamilie hätte der 65-jährige Autor einen großen Wurf einer alternativen Familie aus der Sicht eines Jugendlichen gelingen können. Stattdessen bleibt die Geschichte bedauerlicherweise unter ihren Erwartungen und schmückt sich allenfalls mit dem Gore-Vidal-Feigenblatt. - Eine verpasste Gelegenheit!
Günter Ohnemus: Alles was du versäumt hast. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011. 272 Seiten. 7,99 €
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