Traditionelle Hochzeit in Anatolien: Der Bräutigam sieht die Braut am Hochzeitstag zum ersten Mal
In Yusuf Yeşilöz' Roman "Hochzeitsflug" wird der 18-jährige Beyto gegen seinen Willen mit seiner Cousine in Anatolien verheiratet.
Von Angelo Algieri
Zwangsehe - nicht nur Frauen sind Opfer, sondern auch Männer. Besonders betroffen sind Schwule. Es gibt kaum soziologische Untersuchungen dazu. Da (auch schwule) Männer - so scheint es - aus einer Zwangsheirat profitieren würden; auch hätten sie viel mehr Möglichkeiten aus dem Ehealltag zu (ent)fliehen.
Doch wie verstrickt und komplex eine Zwangsheirat für einen schwulen Mann sein kann, das erzählt der in der Schweiz lebende und in Anatolien geborene Autor Yusuf Yeşilöz. Sein Roman "Hochzeitsflug" ist im Zürcher Limmat Verlag erschienen.
Der 18-jährige Beyto, Protagonist und Ich-Erzähler, und der gleichaltrige Manuel sind ein glückliches Paar. Beytos Eltern wissen nicht, dass ihr Sohn schwul ist. Als Beyto mit seinen Eltern in den Urlaub von seiner anonymen deutschsprachigen Stadt in die Türkei reist, erwartet ihn eine böse Überraschung. Im anatolischen Heimatdorf erfährt er, dass er mit seiner Cousine verheiratet werden soll - ein Schock für Beyto! Er weigert sich vehement. Doch es nützt nichts: Sein Vater hat Beytos Großvater vor Jahren diese arrangierte Heirat versprochen und das ganze Dorf wisse davon. Die Familienehre steht auf den Spiel. Beyto resigniert, auch weil er seiner Cousine, die er mag, nicht als "geschändete Frau" zurücklassen möchte. Drei Tage lang wird üppig gefeiert. In der zweiten Nacht verführt die Cousine Beyto zum Sex - ein rein mechanischer Orgasmus, der ihn anekelt.
Beyto flieht vor Familie und Freund nach England
Yusuf Yeşilöz beschreibt in seinem Roman den Kampf zwischen "Familienehre" und Coming-out
Drei Wochen später fliegen sie zurück, ohne die Cousine. Denn sie hat noch kein Visum. Als sie landen, ist Manuel unerwarteterweise am Flughafen und freut sich riesig, seinen Freund wiederzusehen. Er möchte sich gleich auf ihn stürzen. Doch Beyto kann ihn gerade noch bremsen. Manuel erfährt daraufhin von Beytos Eltern, dass er geheiratet hat. Manuel ist fassungslos. Ihre Beziehung steht auf der Kippe, bis sie kurz darauf zerbricht. Als die Bewilligung des Visums für die Cousine genehmigt wird und sie im Anflug ist, flieht Beyto. Mit dem Geld, das er für die Ehe bekommen hat, setzt er sich nach England ab...
Autor Yeşilöz zeichnet in "Hochzeitsflug" ein sehr treffendes Bild über eine im ländlichen Dorf verwurzelte türkische Familie, die in der westlichen Wertegemeinschaft nie angekommen ist und nicht ankommen will. Einzig Sohn Beyto, der seine Homosexualität entdeckt und im Geheimen auslebt, akzeptiert die westlichen Werte. Jedoch fühlt er sich zwischen der äußeren und der familiären Welt hin- und hergerissen.
Auf der einen Seite steht er unter dem Druck von Manuel: Der Freund möchte, dass sich Beyto bedingungslos und sofort outet. Beyto hat es sogar versucht. Doch den Eltern konnte er nicht allgemein überzeugen, dass Homosexualität normal sei. Schließlich gab er auf, ehe er von sich selbst sprechen konnte. Auf der anderen Seite steht Beyto unter dem Druck der Familienehre und der drohenden Schande durch Verwandtschaft und Dorf. Yeşilöz tut gut daran, die ganze breitgefächerte Komplexität und die verheerenden Auswirkungen des Ehrenkodex aufzuzeigen. Das ist das eindrücklichste Verdienst dieses Buches!
Befremdliche Sprache: der Schwanz als Schilfrohr
Wuchs in Anatolien auf, lebt seit vielen Jahren in der Schweiz: Yusuf Yeşilöz (Bild: Luca Zanier)
Bedauerlicherweise hat der Roman Schwächen: Obwohl der kulturelle Zwiespalt des Protagonisten hervorragend gezeichnet ist, so überzeugt er nicht als junger, schwuler "Hüpfer". Es fehlt Sehnsucht, gepaart mit jungem, spontanem Temperament. Selbst die Sprache wirkt altbacken und altklug. Zudem sind Beytos eigene Sexbeschreibungen befremdlich bildhaft: etwa Schilfrohr für Schwanz oder Gewitter für Orgasmus. Für einen jungen Schwulen unglaubwürdig!
Trotzdem: Autor Yeşilöz schärft den Blick auf Zwangsheiraten von schwulen Männern - mit all ihren komplexen Auswirkungen, Dilemmata und zwiespältigen Gefühlen. Und dies aus der Perspektive von Nicht-Akademikern - was selten in der gegenwärtigen schwulen Literatur vorkommt.
In seinem Roman bietet Yeşilöz keine Lösung für die Zerrissenheit des Protagonisten - vielmehr stellt er Fragen: Dürfen wir unsere aufklärerischen, individuellen Maßstäbe an ein archaisches, kollektives Wertesystem legen, müssen wir es bewerten und verurteilen? Wie kann man aus dem Ehrenkodex-Teufelskreis entkommen? Bleibt (immer) nur der radikale Abbruch mit der Familie?
Mit "Hochzeitsflug" ist dem 47-jährigen Autor ein Roman gelungen, der präzise aufzeigt, wie Homophobie und Zwangsheirat alle Beteiligten ins Unglück reißt. Kann der Ehrenkodex erst überwunden werden, wenn sich (schwule) Migranten-Söhne emanzipieren und sich der Realität stellen - wie es am Schluss des Romans heißt? Klar ist: Es geht nicht ohne Auseinandersetzung und Kampf. Und es bedarf viel Mut - Mut von vielen!
Yusuf Yeşilöz: Hochzeitsflug, Roman, 200 Seiten, Limmat Verlag, Zürich 2011, 27,80 €