Der grün-rote Koalitionsvertrag versprach einen Aufbruch, die Politik blieb auf halber Strecke stecken. Jetzt wird um die Schuld gestritten.
Die AG Lesben und Schwule in der SPD in Baden-Württemberg hat einen Bericht von queer.de zurückgewiesen, es gebe einen "offenen Streit" zwischen den beiden Koalitionspartnern im Land über die Gleichbehandlung von verpartnerten Beamten mit ihren verheirateten Kollegen im Landesrecht.
Während die Grünen eine Rückwirkung des Familienzuschlags ab 2003 forderten, hatten die Sozialdemokraten eine ab 2009 gefordert, die dann so beschlossen worden sei, heißt es im Bericht. "Die Rückwirkung bis 2009 wurde von der Koalition einmütig beschlossen", schreibt nun hingegen der Landesvorstand der Schwusos. Ferner existiere eine "Absprache zwischen Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Minister Nils Schmid, an diesem Datum festzuhalten."
In den "Stuttgarter Nachrichten" hatte die grüne Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch in der letzten Woche erklärt, aus juristischer Sicht und auch aus Überzeugung müssten Schwulen und Lesben ab 2003 der Familienzuschlag gezahlt werden, so wie es die EU fordere. Die Schwusos meinen dazu, die Aussage sei als Einzelmeinung zu werten und spiegele nicht die Linie der Grünen und ihrer Minister wider.
Allerdings halten die Schwusos eine Rückwirkung ab 2003 selbst für "zwingend geboten" und kündigten an, "weiterhin für die Rückwirkung bis 2003 (zu) kämpfen und unsere Abgeordneten im Landtag für dieses Anliegen (zu) sensibilisieren".
Damit geht der offene Streit freilich weiter, und auf eine Äußerung eines SPD-Landtagsabgeordneten gehen die Schwusos in der Pressemitteilung gar nicht ein. Nikolaos Sakellariou hatte erklärt, dass die Kosten der Gleichstellung bis 2003 in Höhe von 6,5 Millionen Euro zu hoch seien. Immerhin könnten sich schwule und lesbische Beamte bis zu 13.500 Euro zurückerstatten lassen, was "für eine schöne Kreuzfahrt" reichen würde. Die Schwusos sagen, sie hätten mit dem Abgeordneten gesprochen, dem das Beispiel leid tue; er habe keine Klischees bedienen wollen. Sakellariou halte den Zuschlag für Homo- wie Heterosexuelle für anachronistisch und sei ansonsten froh über Weiterentwicklungen in der Homopolitik.
Im Mai hatte der Europäische Gerichtshof in einem Grundsatzurteil entschieden, dass die Benachteiligung von Schwulen und Lesben im Arbeitsleben ab 2003 gegen europäisches Recht verstoße (queer.de berichtete). Das hessische Verwaltungsgericht hat jedoch im September geurteilt, dass Schwule und Lesben erst ab 2009 gleichgestellt werden müssen - weil zu diesem Zeitpunkt das Bundesverfassungsgericht die Benachteiligung für grundgesetzwidrig erklärt hatte (queer.de berichtete). In anderen Bundesländern, etwa im rot-grünen NRW, wurde inzwischen eine Gleichstellung ab 2003 beschlossen.
Als Grün-Rot die Anpassung des Landesrechts an die Lebenspartnerschaft im Sommer beschlossen hatte, gab es unter anderem Lob des LSVD für das Ende des homopolitischen Stillstandes in BaWü, aber auch Kritik an der Rückwirkung ab 2009 (queer.de berichtete). Der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck hatte damals auf Anfrage von queer.de geschrieben: "Der Entwurf kommt aus einem SPD-Ministerium, wahrscheinlich wurde in der Eile von einem Beamten der Entwurf der Bundesregierung abgeschrieben." Den schwarzen Peter scheint man bei SPD nicht haben zu wollen. (nb)
Update 20.10.: Schwusos zu Sakellariou
Allerdings kennt man das ja schon aus anderen Zusammenhängen (Stuttgart 21 und der grüne Wahlkampf-Gag lassen grüßen).
Von den zutiefst beleidigenden und diffamierenden Aussagen eines Herrn Sakellariou ganz zu schweigen. Eine Landesregierung, die jemanden, der derart widerwärtige schwulenfeindliche Kampagnen lostritt, einfach gewähren lässt, ist genauso unwählbar wie ihre schwarz-gelben Vorgänger.
Herr Sakellariou gehört angezeigt für seine diskriminierende Aussage gegenüber schwulen und lesbischen Beamten. Allerdings scheinen weder SPD noch Grüne, wenn es darauf ankommt, ein Problem mit homofeindlichen Aggressoren in ihren eigenen Reihen zu haben (Palmer & Co. bei den Grünen lassen grüßen), sondern folgen in der Sache vielmehr deren Linie. Und lassen die Rhetorik ebenso unwidersprochen stehen.
Bürgerlich-reaktionäre Blätter wie die "Stuttgarter Nachrichten" nehmen die schwulenfeindlichen Attacken dankend auf und titeln ganz groß:
"Rot-Grün
Homo-Ehe kostet Millionen"
www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.rot-gruen-homo-ehe-kos
tet-millionen.cc6b3089-3efa-4e1b-a4c4-325d20e56018.html
Die aktuellen Vorgänge in Baden-Württemberg machen sehr deutlich, wohin sich der "gesellschaftliche Diskurs" in Bezug auf elementare Bürgerrechte von Schwulen und Lesben derzeit entwickelt.