Der Traum vom schwulen Glück zu zweit währt nicht lang: Der Roman "Ali und Ramazan" beruht auf einer wahren Begebenheit
Waisenjungen, sexueller Missbrauch, Prostitution: In ihrem Roman "Ali und Ramazan" verpackt die türkische Bestseller-Autorin Perihan Mağden schwere Themen in Kitsch.
Von Angelo Algieri
"Am 18. Dezember 1992 endet die Geschichte von Ali und Ramazan. Im wirklichen Leben. Auf Seite 3." Tragischer kann ein Roman nicht anfangen: Mit dem tödlichen Schluss. Und dem Verweis auf eine wahre Begebenheit, die angeblich auf der Sensationsseite 3 des türkischen Boulevardblattes "Hürriyet" abgedruckt wurde.
Mit diesem Paukenschlag beginnt der Roman Ali und Ramazan der türkischen Autorin und streitbaren Journalistin Perihan Mağden, Jahrgang 1960. Ihr Buch ist jetzt in deutscher Übersetzung im Berliner Suhrkamp Verlag erschienen.
Es folgt der Rückblick: Ali und Ramazan, zwei Waisenjungen, lernen sich mit 14 bzw. 13 Jahren im Waisenhaus in Istanbul kennen. Bald verlieben sie sich und haben Sex. Sie sind von nun an unzertrennlich. Der Direktor bemerkt ihre Beziehung und ist eifersüchtig. Denn Ramazan wurde von Kind an von ihm sexuell missbraucht. Als Jugendlicher muss er die Nächte mit dem Direktor verbringen und ihn ficken. Immer wenn das Bett von Ramazan leer ist, kann Ali nicht einschlafen - in ihm wächst eifersüchtige, langjährige Wut. Mit Folgen.
Im Alter von 18 Jahren leisten sie den Militärdienst. Zuerst der ältere Ramazan, dann Ali. Nach der Zeit in der Armee arbeitet Ramazan als Stricher. Als Ali vom Wehrdienst zurückkehrt, wird ihr Wiedersehen in der gemeinsamen Wohnung mit drei Wochen langen Sex gefeiert. Die schönste Zeit ihrer Beziehung. Denn die folgenden Monaten werden für beide eine Qual: Ramazan geht weiterhin anschaffen und wird zum beliebtesten Prostituierten - während Ali seinen Schmerz mit Klebstoff-Schnüffeln und Tabletten betäubt. Sie streiten sich immer heftiger, bis Ali eines Tages vor Wut Ramazan in die Brust sticht. Er überlebt und verzeiht Ali. Die Beziehung scheint gekittet zu sein. Auch wenn Ramazan weiter seinen Körper verkauft, spart er das Geld, um mit Ali an einem andern Ort bei Null anzufangen. Doch soweit kommt es nicht...
Der ambivalente Umgang der türkischen Gesellschaft mit Homosexualität
Perihan Mağden hat einen ungewöhnlichen Coming-of-Age-Roman geschrieben. Die Autorin richtet den Fokus auf die Schwachen: den schwulen Sexarbeiter und die Waisenkinder. Mağden sieht die Verantwortung beim Staat und in der Gesellschaft. Sie prangert den schlechten Zustand der türkischen Waisenhäuser an und dass den Kindern keine Perspektive geboten wird. Ali und Ramazan verlassen das Waisenhaus mit einem Grundschulabschluss - zu wenig für den Arbeitsmarkt Anfang 1990er Jahre, der sich im Umbruch befand: Textilmanufakturen wurden geschlossen, Hilfskräfte nicht mehr gebraucht. Da blieb für Ramazan nur Anschaffen als lukrativer Erwerb, um für beide das Leben zu bestreiten.
Zudem durchleuchtet Mağden den ambivalenten Umgang der türkischen Gesellschaft mit Homosexualität. Unter den Freiern Ramazans sind alle Schichten vertreten - vom Gemüsehändler bis zum reichen Schnösel. Und hier zeigt sich das Heuchlerische: Auf der einen Seite ist Homosexualität gesellschaftlich verpönt (aber nicht gesetzlich strafbar!) und es kommt regelmäßig - bis heute - zu Gewaltakten, Ehrenmorden und polizeilichen Drangsalierungen. Auf der anderen Seite gibt es viele Männer, die Homosex im Verborgenen haben: mit Prostituierten, in Hamams oder in Parks.
Schmachtende Sehnsucht, die lächerlich wirkt
Perihan Mağden, Jahrgang 1960, gilt als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen in der jüngeren türkischen Literatu
Ungewöhnlich ist dieser Roman auch aus literarischer Sicht. Er ist nämlich unerträglich kitschig. Schmachtende Sehnsucht, die lächerlich wirkt. Verstärkt durch Metaphern, die zum Rest des Textes überhaupt nicht passen. Die Protagonisten bleiben in ihrer Charakterisierung erschreckend holzschnittartig. Eine ironische Anspielung des Subtextes auf türkische Lieder, Soaps oder Filme kann ich nicht gelten lassen: Es wird dem ernsten Inhalt nicht gerecht.
Zudem mangelt es dem Text an Stringenz und fehlender Dramaturgie. Ständige Vorausschauen entziehen die Spannung. Außerdem hat die Autorin ihre Figuren nicht im Griff und schweift ab. Der Roman ist so schwer mit Themen überfrachtet, dass die Kern-Geschichte letztlich untergeht. Zusätzlich bleibt Mağden oft an der Oberfläche und im Ungefähren. Man fragt sich mitunter, warum die Geschichte in einem (halb-)fiktionalen Text gegossen wurde. Wäre eine Reportage nicht aufschlussreicher gewesen?
Ein Beispiel hätte sich die Autorin an dem Schweizertürken Yusuf Yeşilöz und seinem Roman "Hochzeitsflug" (queer.de rezensierte) nehmen können. Im Gegensatz zu Mağden hat er eine präzise Beobachtungsgabe und beschreibt facettenreich das soziale Milieu seines Protagonisten.
Trotz der hochbrisanten Geschichte und spannenden Kernthemen hat es Perihan Mağden leider verpasst, den Text in einer angemessenen literarischen Form zu präsentieren. Bleibt die Hoffnung, dass die derzeitige Verfilmung des Buches packender und substanzieller wird!
Perihan Mağden: Ali und Ramazan. Roman. Aus dem Türkischen von Johannes Neuner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 191 Seiten. 13,95 €
Terminhinweis
Perihan Mağden stellt ihr Buch am Donnerstag, den 24. November 2011 im Schwulen Museum Berlin vor. Moderation: Kai Strittmatter, Beginn: 20 Uhr. Adresse: Mehringdamm 61, Kreuzberg. Eintritt: 5/3 €.