Feierte Orgien mit Gymnasiasten: Ernst Röhm, Stabchef der Sturmabteilung (SA) (Bild: Bundesarchiv)
Für sein Buch "Röhm. Ein deutsches Leben" hat Norbert Marohn eine immense Recherchearbeit geleistet - und doch verklärt er das Leben des auf Hitlers Befehl ermordeten SA-Stabschefs.
Von Angelo Algieri
Weder für die Nazis noch für die Schwulenbewegung taugt er als Vorbild: Ernst Julius Günther Röhm (28.11.1887-1.7.1934). Er war schwul und Stabchef der Sturmabteilung (SA) von 1931-34 und wurde auf Anordnung Hitlers am 1. Juli 1934 umgebracht. Nun ist mit "Röhm. Ein deutsches Leben" die erste deutschsprachige Biografie erschienen. Besser gesagt: eine Romanbiografie, die der Schriftsteller und Hörspielautor Norbert Marohn, Jahrgang 1959, im Leipziger Lychatz Verlag veröffentlicht hat.
Der Fokus der Biografie Röhms liegt in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis 1923 und dann wieder von 1931 bis zu seiner Ermordung. Grund dieser groben Einteilung ist, dass aus dieser Zeit die meisten Dokumente vorliegen. Autor Marohn teilt sein Buch in vier Kapitel und zwei Exkurse auf. Dabei geht er teils thematisch, teils chronologisch vor.
Röhm wurde Nationalsozialist, weil er sich in der demokratischen Weimarer Republik nicht zurecht fand. Die Werte, die er noch im Krieg für die Monarchie verteidigte - "Dienen, Opferbereitschaft, Ehre, Treue", wie Marohn aufzählt - galten nun nichts mehr. Er beklagte, dass die Weimarer Republik vom Kapital geleitet sei. Der Erste Weltkrieg hat ihn zusätzlich als Soldaten geprägt: Er verherrlichte die Kameradschaft, die Solidarität, den Frontkampf.
Diese Eigenschaften und sein Organisationstalent konnte er in den Nachkriegsjahren in paramilitärischen Wehrverbänden, darunter der SA, einsetzen. So unterstützte Röhm mit einem Wehrverband den gescheiterten Putschversuch durch Hitler am 9. November 1923 und landete mit seinen Nazi-Kameraden für einige Monate im Gefängnis.
Seit 1924 lebte Röhm seine Homosexualität recht offen aus
Bis zur "Machtergreifung" der Nazis am 30. Januar 1933 waren Hitler und Röhm noch dicke Freunde (Bild: Bundesarchiv)
1924 war für Röhm auch privat ein entscheidendes Jahr: Er ließ sich von seiner Frau scheiden, weil er erkannte, dass er homosexuell war. Von nun an lebte Röhm vergleichsweise offen schwul. Bei seinen Berlin-Aufenthalten besuchte er schwule Lokale, etwa das Eldorado, oder begab sich in die einschlägige Sauna. Laut Röhm-Biografin Eleanor Hancock wurde er 1929 sogar Mitglied in der Deutschen Liga für Menschenrechte, die sich für die Abschaffung des § 175 einsetzte. Allerdings war seine Homosexualität für den politischen Gegner ein gefundenes Fressen - vor allem in Wahlkämpfen vor den Reichstags- und Landtagswahlen. Die SPD-nahe "Münchner Post" veröffentlichte 1932 einige Briefe Röhms, in denen er sich selbst als homosexuell bezeichnete. Konsequenzen für Röhm gab es keine: Hitler hielt ihm die Treue.
Freilich nur bis zur legendären "Nacht der langen Messer" Ende Juni 1934, in der Röhm und seine befreundeten SA-Offizieren festgenommen und ermordet wurden. Die Vorgeschichte: Zwischen Röhm und Hitler kam es nach der "Machtergreifung" vom 30. Januar 1933 zu mehreren Streitpunkten: Röhm fand etwa die Arbeiterinteressen nicht ausreichend vertreten, war gegen den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund, plädierte für eine Zusammenarbeit mit den Westmächten und wollte die Zusammenlegung der Reichswehr mit der SA. Er vertrat diese Meinungen öffentlich immer vehementer, bis es Hitler zu bunt wurde und er die "Nacht der langen Messer" befahl, die dann von der offiziellen Propaganda als "Röhm-Putsch" dargestellt wurde.
Diese letzten Stunden sind in Marohns Buch spannend erzählt und minutiös beschrieben: Hitler selbst fuhr am frühen Morgen des 30. Juni nach Bad Wiessee, wo sich Röhm auf Kur befand, und ließ ihn wegen Verrats verhaften - samt der beiden Männer, die in seinem Hotelzimmer übernachtet hatten. Ob es am Abend zuvor zu ausgelassenen Homo-Orgien kam, wie in Viscontis Film "Die Verdammten", wird nicht berichtet. Doch an anderer Stelle erzählt Marohn, dass Röhm mit Gymnasialjungs Dreier und Gruppensex gehabt hat. Die meisten Verhafteten wurden bald im KZ Dachau erschossen. Röhm hingegen wurde in das Gefängnis Stadelheim gebracht. Hitler befahl, dass Röhm sich selbst umbringen soll, was er jedoch nicht tat. Schließlich erschossen ihn zwei SS-Männer. An jenem Wochenende wurden insgesamt 83 unliebsame SA- und SS-Mitglieder sowie 200 Oppositionelle ermordet.
Akribische Recherche, austauschbare Dialoge
Bescheidenes Cover: An seiner Romanbiografie hat Norbert Marohn mehrere Jahre lang gearbeitet
Zu loben ist, dass Marohn eine immense Recherchearbeit geleistet hat - er forschte sogar in Archiven in Bolivien, wo Röhm von 1928 bis 1930 Leutnant für die dortige Regierung war. Die Direktzitate sind zwar gekennzeichnet, doch der Autor verzichtete auf Fußnoten. Das entspricht einerseits dem Konzept einer Prosa, andererseits: Was nützen einem die Zitate ohne direkte Zuordnung und Bewertung von Quellen? Reicht es wirklich, die Primärquellen am Ende des Buches aufzulisten?
Vom literarischen Standpunkt her hat Norbert Marohn zwar erfundene Dialoge eingeführt, die tatsächlich so hätten stattfinden können. Doch das große Manko dieser Gespräche ist, dass die Personen austauschbar sind und die Sprache sehr künstlich wirkt. Ob nun Himmler, Heydrich oder einer der schwulen SA-Soldaten spricht, ist vollkommen gleich: Es fehlt an charakterlicher und sprachlicher Unterscheidbarkeit. Zusätzlich hätte ich mir zu Fakten-mageren Lebensabschnitten, etwa der Jugend Röhms, mehr Mut zur Fiktion gewünscht!
Bleibt inhaltlich zu urteilen: Einerseits erfahren wir viele persönliche Details über Röhm, etwa über seine schwulen Schützlinge oder dass ihn in Bolivien ein junger Kunststudent begleitet hat. Andererseits finde ich es sehr problematisch, dass in dieser Biografie seine Befehle zu Straßenschlachten, seine Mordaufträge fehlen. Da denkt man etwa an die blutigen SA-Krawalle im Sommer 1932, bei denen es 300 Tote gab. Im Buch wird ein Röhm vorgestellt, der eine zu weiße Weste trägt. Mehr noch: Er wird vor allem als Opfer von Partei- und Medienkampagnen dargestellt. Das ist schlicht zu einseitig, wenn nicht verklärend. In einer (Roman-)Biografie sollten die verschiedenen Facetten seines Charakters dargestellt werden - und dazu gehören auch brutale Anweisungen!
Die verdienstvolle Recherchearbeit über Röhm hat Marohn somit leichtfertig verspielt. Bleibt zu hoffen, dass die vielgelobte Biografie "Ernst Röhm. Hitler's SA Chief of Staff " der australischen Historikerin Eleanore Hancock bald ins Deutsche übersetzt wird!
Norbert Marohn: Röhm. Ein deutsches Leben. Romanbiografie, 330 Seiten, Lychatz Verlag, Leipzig 2011, 19,95 € (ISBN: 978-3-942929-00-4)