Michael ist ein verstörender Film, der keine einfache Antwort erlaubt (Bild: Fugu Filmverleih)
Pädophilie und Missbrauch in einem Kinofilm, wie funktioniert das? Ein Gespräch mit Regisseur Markus Schleinzer über ein heikles Thema.
"Michael" beschreibt die letzten fünf Monate des unfreiwilligen Zusammenlebens vom 10-jährigen Wolfgang mit dem 35-jährigen Michael. Der unauffällige Versicherungskaufmann führt nach außen ein normgerechtes, angepasstes Leben. Niemand kann auch nur ansatzweise seine pädophile Neigung erahnen, oder gar, dass er ein Kind in einem Kellerraum versteckt. Wolfgang darf zum Essen und Fernsehen sein Gefängnis verlassen, manchmal führt Michael ihn auch aus, in den Zoo oder auf die Kartbahn. Den Erklärungen, dass seine Eltern ihn nichts mehr von ihm wissen wollen, will der Junge noch nicht gänzlich folgen. Er hat die Hoffnung auf eine Rückkehr noch nicht verloren.
Regisseur Markus Schleinzer ist mit seinem Film der große Gewinner des 33. Filmfestivals Max Ophüls Preis 2011. Die Jury begründete die Vergabe des mit 18.000 Euro dotierten Max Ophüls Preises an den Österreicher: "Michael eröffnet dem Zuschauer die Täterperspektive eines unglaublichen Verbrechens. Mit nüchterner Forensik zeigt er die Seelenlandschaft des Unbegreiflichen und Verwerflichen." Schleinzer beschreibt im Interview mit Ursula Baatz, wie er an dieses Thema herangegangen ist.
Regisseur Michael Schleinzer (Bild: Viktor Brazdil)
Wie kamst Du auf die Idee, so einen Film zu machen?
Es hat mich in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt, wie mit Tätern und dem Täterbegriff in der Öffentlichkeit umgegangen wird. Und in diesem Diskurs gibt es kaum ein Verbrechen, welches so stark verdammt wird, wie Kindesmissbrauch. Hier handelt es sich um eines der größten Verbrechen unserer Gesellschaft, so dass sogar rechtschaffene Menschen, die sich stark der Gesetzgebung verpflichtet fühlen, gerne zum mittelalterlichen Recht zurückkehren würden, und beginnen, den Beschuldigten vieles an den Hals zu wünschen. Ich selbst bin nicht frei davon, wenn ich Derartiges höre, was mein Vorstellen und meine Vorstellung überschreitet. Und auch ich bin dem Boulevard, dem man ja fast ausschließlich die Rezeption dieses Themas überlassen hat, weite Strecken gefolgt. Das hat mich erschrocken und das wollte ich mir ansehen. Ich habe eine unverstellte Annäherung an dieses Thema gesucht, und die filmische Fiktion bietet eben diese Möglichkeit.
Täter werden in den Medien zu Monstern stilisiert ...
Die Boulevardpresse operiert gerne mit griffigen Formeln, wie "das Monster von ..." etc. Doch Monster sind keine Menschen - ein Monster ist ein Fabelwesen, eine Märchengestalt. Dem Täter wird damit das Menschsein abgesprochen. Offensichtlich ist uns die Distanz, die wir zu Tätern einnehmen müssen, unheimlich wichtig. Und die Mittel, um diese Distanz zu schaffen, sind beliebig. Weil es nur darum geht, dass der Abstand zwischen uns und Personen, die so gehandelt haben, möglichst groß sein soll. So jemanden will man sich nicht ansehen müssen, oder vielleicht gar durch die Möglichkeit der Identifikation in seine Nähe gerückt werden. Wir sind meist auf der Suche nach Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten, an denen wir andere festmachen können. Aber nicht zwingend, um zu verstehen und zu erkennen, sondern um sie von uns weg zu schieben. Das ist ein immer gleiches formelhaftes Operieren, diese zwanghafte Suche nach "Erlösung" durch psychologische Erklärungen, gestützt auf die Erfindung auswegloser Biographien. Diesen Mechanismus habe ich gezielt versucht, bei "Michael" außer Kraft zu setzen. Mein zentraler Punkt war: Ich schaffe nur dann einen Umgang mit jedweder Kriminalität, indem ich sie anerkenne, also auf Augenhöhe damit bin. Ich muss dessen Existenz anerkennen. Das heißt nicht vergeben, das steht vermutlich nur den Opfern zu. Die Verurteilung erledigt das Gericht.
Youtube | Interview mit Regisseur Markus Schleinzer
Es gibt auch im Leben dieses Täters Normalität ...
Wie ist das, wenn man unter solchen Bedingungen zusammen lebt? Für beide Seiten? Wie ist das, wenn nach einer gewissen Zeit die ersten Proteste vorbei und die ersten Schwierigkeiten der Gewöhnungs-Phasen beschritten sind? Das ist dann nach unserer Vorstellung eine Beziehung. Man ist schon ein paar Jahre zusammen, man hat sich aneinander gewöhnt - wie ist das? Darüber wollte ich erzählen. Und es kommt auch eine Art von Sexualität vor, weil sie eine Komponente dieses Zusammenlebens ist, das natürlich vom Täter gesteuert wird.
Was für mich den Film interessant und auch erschreckend macht, ist das ja nicht nur der Täter die Normalität sucht, sondern dass die Normalität ihn ja gar nicht abnormal findet. Er funktioniert prima an seinem Arbeitsplatz in einer Versicherung, er wird sogar befördert, man schätzt ihn. Die "normalen Leute" reagieren auf ihn so, als ob er ein ganz normaler Mensch wäre.
Sollte Abnormalität das Gegenteil von Normalität sein, glaube ich nicht, dass sie sich dann auch durch alle Lebensbereiche zieht. Das Abnormale ist nur eine Facette. In "Michael" hat die Abnormalität des Täters, die Pädophilie, ihn dazu getrieben, dieses Kind zu entführen. Aber das ist nichts, was ihn erkennbar macht, dass man sofort von ihm abrücken könnte. Und wenn dann- wie bei solchen Fällen typisch - die Nachbarn zusammenströmen und sagen "Er war doch immer so nett ...", so versuchen sie, das Dysfunktionale mit dem Funktionalen irgendwie aufzuwiegen. Dieses Unverständnis - wie kann jemand, der mir einmal auf die Katzen aufgepasst hat, plötzlich abnormal sein? Das erscheint uns unwahrscheinlich, weil dies unsere eigene Normalität gefährdet.
Youtube | Interview mit Hauptdarsteller Michael Fuith
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Vielleicht zeigt der nächste Film ja mal eine funktionierende und für beide (Mann und Junge) bereichernde enge Freundschaft zwischen einem Homopädophilen und einem Jungen (auch wenn diese oft bestehende Realität erst einmal deutlich langweiliger klingt als dieser Entführungsgruselfilm...).