Spannendes Thema, wenn man unvoreingenommen an die Sache geht. Die dazugehörige Fotodoku rettet das Ganze etwas. (Bild: Screenshot Spiegel Online)
Christian Scheuß schreibt an den Autoren Johannes Pennekamp, der für "Spiegel Online" aus Indien eine Reportage über minderjährige Stricher mitbrachte - und darin über seine Vorurteile stolpert.
Lieber Johannes Pennekamp,
für "Spiegel Online" zu schreiben, ist eine prima Sache. Reichweite ist garantiert, die Bezahlung ist (hoffentlich) gut, und fürs Renommee ist es nicht das Schlechteste. Da wird schließlich nicht jeder genommen. Als Absolvent der Kölner Journalistenschule mit den Schwerpunkten Sozialpolitik und Wirtschaftsethik, als Preisträger des Ecosense-Journalistenpreises, da kann die Spiegel-Redaktion darauf bauen, einen seriös arbeitenden Menschen vor sich zu haben, nicht wahr?
Doch mit der Reportage "Prostitution Minderjähriger - Geraubte Seelen" über mann-männliche Prostitution im indischen Bangalore kommen ein paar Zweifel auf, ob Sie ihr eigenes Credo, sich "gern mit Gerechtigkeitsfragen" zu beschäftigen, hier wahrhaft beherzigt haben. Über Gerechtigkeitsfragen zu schreiben heißt schließlich auch, sich dem Thema gerecht zu nähern, statt tief in die homosexuellenfeindliche Klischeekiste zu greifen.
Sie berichten über den Jungen Lokesh folgendes: "Über Monate hinweg zwang der Lehrer seinen Schüler zum Sex, oft mehrmals am Tag. Dem Jungen war nicht klar, was da mit ihm passierte. Er spürte nur, dass er sich veränderte. Vielleicht wäre Lokeshs Geschichte anders verlaufen, hätte er damals schon mit einer Frau Erfahrungen gesammelt. Doch Lokesh war 13 Jahre alt. In einem Alter, in dem heranwachsende Männer nach Orientierung suchen, wurde der Sex mit einem älteren Mann für ihn zur Normalität."
Höre ich da etwa die alte Verführungstheorie durch die Hinter(n)tür hereintrapsen, laut der Orientierung suchende Jugendliche durch gewissenlose Männer zu Homosexuellen gemacht werden? Oder meinten sie damit: Hätte er damals schon mit einer Frau Erfahrungen sexuellen Missbrauchs gesammelt, dann wäre sein Leben anders verlaufen? Dass ein Teenager bei seiner Identitätssuche durchaus auf die Idee kommen kann, dass er sexuelle Erfahrungen mit Männern denen mit Frauen bevorzugt, das ist Normalität und völlig ok. Ganz und gar nicht ok ist, das es für einen Jugendlichen zur Normalität wird, dass Erwachsene über sie nach Gutdünken sexuell verfügen können. Nur muss man das dann auch so deutlich formulieren.
Schwarz-Weiß-Malerei wie im schlechten Bollywood-Film
Im vergangenen Jahrhundert gab es in Spielfilmen besonders oft die Rollenteilung des guten Heterosexuellen und des bösen Homosexuellen. Der böse Homosexuelle wurde entweder als dämonischer Verführer inszeniert (Anders als du und ich, 1957), als alberne Fummeltrine (Wenn die tollen Tanten kommen, 1970) als tragische Figur, deren unglückselige Veranlagung zwangsläufig zum Exitus führt (Tod in Venedig, 1971) oder als psychopathischer Transvestit, der attraktive junge Frauen abmurkst (Das Schweigen der Lämmer, 1991). So ein Bösewicht "tänzelt" ihnen plötzlich in Bangalore in der Gestalt des Zuhälters Suresh vor der Nase herum.
Der Mann ist für sie äußerst unsympathisch, aber nicht so sehr, weil er Geschäfte mit der Prostitution Jugendlicher macht, sondern weil er "pummelig" ist, und weil er einen langen weißen Rock trägt, und dazu auch noch ein Tuch, das er "betont weiblich" über seine Schulter streicht. Als wäre das noch nicht schlimm genug, stinkt dieser Mann: "Der penetrant-süßliche Duft, der ihn umgibt, füllt in Windeseile jede Nische des Raumes." Damit die verpestete Luft in Bewegung gerät, wirbeln sie kräftig mit der Klischeekeule: "Wären die Worte, die er mit seinen Posen garniert, nicht so widerlich, könnte man über die skurrile Erscheinung beinahe lachen." Wäre der Versuch, einen Menschen, der zweifelsfrei moralisch verwerfliche und fragwürdige Dinge tut, durch diese Wortwahl herabzuwürdigen nicht so widerlich und würden sie dazu nicht ihre eigenen Vorurteile gegenüber Männern, die nicht dem männlichen Machotypus entsprechen, als Stilmittel benutzen, würde ich glatt mitlachen.
Lieber Kollege vom Journalistenbüro "Weitwinkel-Reporter": Hätten sie sich etwas mehr mit den Unterschieden von biologischem Geschlecht, sexueller Orientierung und gesellschaftlich geprägten Geschlechterrollen beschäftigt, sich zudem tiefer in den kulturellen Kontext eingefühlt, der besonders in Indien dazu führt, dass viele Homosexuelle eine weibliche Rolle einnehmen, weil sie nur so einen Hauch mehr an Akzeptanz und Respekt bekommen, wäre die Verächtlichmachung und die dahintersteckende Engstirnigkeit nicht aus ihrer Feder geflossen. Ich empfehle Ihnen zum Einstieg die wunderbare TV-Reportage "Between the Lines - Indiens drittes Geschlecht" von Thomas Wartmann über die Hijra-Kultur.
Nur sexuelle "Erfahrungen mit einer Frau" schützen 13jährige männliche Jugendliche vor Missbrauch!
Und der Missbrauch liegt nicht etwa im Missbrauch, sondern in der Homosexualität des Geschehens.
Widerlich!