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Geschlecht und seine Funktion
Der Mensch ist kein Gabelstapler
- 20. April 2012 3 Min.

Heinz-Jürgen Voß räumt mit dem Mythos der Zweigeschlechtlichkeit auf
In seinem Buch "Geschlecht. Wider die Natürlichkeit" argumentiert Heinz Jürgen-Voß gegen vermeintlich biologische Geschlechterdifferenzen. Jetzt ist es in einer zweiten Auflage erschienen.
Von Matthias Zaft
Gabelstapler werden gebaut, um einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen. Etwa Gabeln zu stapeln. Darüber hinaus taugen sie für weitere Zwecke nur bedingt. Ein schweres Los, aber an dieser Stelle nicht unser Thema. Da kaum ein Mensch ein Gabelstapler ist, sollte es eigentlich schwer fallen, menschliches Dasein auf lediglich eine Funktion hin zu betrachten. Oder Mensch gar auf eine funktionale "Bestimmung" festzunageln. Oder festzuschreiben.
Dennoch werden Menschen, seit es "menschheitsgeschichtliche" Überlieferungen gibt, in bestimmten Funktionen festgeschrieben, nicht selten werden sie einzig darauf reduziert. Der Klassiker unter den funktionalen Zweiteilungen trennt Menschen in Mann und Frau. Ein Jeder/eine Jede ist nunmehr zuständig für bestimmte, voneinander getrennte Bereiche, für die Verrichtung verschiedener - und vor allem aber verschieden viel werter - Aufgaben. Der Clou an der Etablierung solcher vermeintlichen Dichotomien besteht freilich darin, dass sie in der Lage sind, sich reproduktiv permanent selbst zu stabilisieren. Sie schließen vom eigens hergestellten Sein (Zweiteilung der Geschlechter, Unterschiede im Wert der Geschlechter) auf ein vermeintliches Sollen (ein Schöpfergott/die Natur wird sich da schon was bei gedacht haben, sonst hätte er/sie sich ja wohl nicht zu dieser Zweiteilung hinreißen lassen).
Ein tradiertes Aussitzen gesellschaftlicher Unrechtszustände
Der klassische naturalistische Fehlschluss also. Gesellschaftliche Ungleichheiten (etwa zwischen "den" Geschlechtern, meint immer: "den beiden" Geschlechtern) werden mit Verweis auf Gewohnheitsrecht begründet, also gar nicht erst zu verändern versucht, und mit Verweis auf die "Natürlichkeit" des Phänomens erklärt. Ein tradiertes, ein erfolgreiches Aussitzen gesellschaftlicher Unrechtszustände, ganz so, als wären Menschen tatsächlich Gabelstapler, die von Anfang an mit nur einer Funktion versehen und zu einem ganz bestimmten Zweck gebaut worden wären.
Mit dieser weitverbreiteten und bestens etablierten Anthropologie geht Heinz-Jürgen Voß in seiner Schrift "Geschlecht: Wider die Natürlichkeit" dringlich ins Gericht. Indem er die vermeintlich biologische Tatsache einer Zweigeschlechtlichkeit als eine historisch und gesellschaftlich erst hergestellte nachzeichnet, führt er die ausschließlich zweigeschlechtliche Gesellschaftsordnung deutlich als eine ebenfalls erst gewordene /gemachte vor Augen. Und damit die Fragwürdigkeit einer "Natürlichkeits-" Rhetorik.
Gegen die Aufteilung in "Sex" und "Gender"

Heinz-Jürgen Voß ist Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät an der Universität Halle-Wittenberg
Konsequenterweise lässt sich Heinz-Jürgen Voß nicht auf eine politisch willkommene Aufteilung in biologisches ("natürliches") und gesellschaftliches Geschlecht nach "Sex" und "Gender" ein. Diese vermeintlich emanzipatorische Debatte nämlich verlagert das Problem lediglich von den Ursachen in die Sphären der Folgen. Dabei bräuchte auf gesellschaftliche Ungerechtigkeit, etwa unter/zwischen "den beiden" Geschlechtern nicht nur akademisch motiviert reagiert zu werden, wenn die vermeintliche Ursache, besagte "Natürlichkeit" nämlich, als dasjenige benannt und anerkannt würde, was sie ist: ein Mythos. Transparent und fundiert arbeitet sich Heinz-Jürgen Voß an eben diesem Mythos ab. Aktuelle Forschungsergebnisse aus Biologie und Medizin nimmt er dabei ebenso präzise in den Blick wie unterschiedliche historische Konzepte und Modelle zum Thema Geschlecht.
Doch damit nicht genug: Dass die Herausarbeitung einer historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit von Zweigeschlechtlichkeit nicht reiner Selbstzweck ist, wird deutlich, wenn Heinz Jürgen Voß die Verbindungslinien zwischen Geschlecht und gesellschaftlicher Rolle und Position aufzeigt. Hierzu begibt er sich in durchaus gute Gesellschaft mit Simone de Beauvoir, deren Protest gegen ein "biologisches Schicksal" von Voß durchweg elegant mit trockener Munition versorgt wird. Ob, und auf welche Weise ihm dies gelingt, lohnt sich selbst herausfinden.
Einziges Manko aus Rezensenten-Sicht: Obwohl das Buch nunmehr bereits in der zweiten Auflage vorliegt, taucht das Gabelstapler-Beispiel nicht auf. Es sei Heinz Jürgen Voß verziehen...
Heinz-Jürgen Voß: Geschlecht. Wider die Natürlichkeit, 180 Seiten, kartoniert, 2. Auflage, Schmetterling Verlag, 2011, 10 €, ISBN 3-89657-663-1

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Die derzeit bestehende Geschlechterordnung ist direkt mit der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und Produktionsverhältnisse verbunden.
Es gab und gibt historisch und kulturell sehr viele verschiedene Einteilungen auch des biologischen Geschlechts oder eben überhaupt keine Einteilung (ein Geschlecht).
Wer jemals Gleichberechtigung für Schwule und Lesben erreichen will, muss die konstruierten Herrschaftsverhältnisse zerschlagen - und zwar vollständig !
(Um dieses Ziel zu erreichen, wird Herrschaft der bisher Unterdrückten notwendig sein - danach nicht mehr.)
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