Aids-Aktivist Ulrich Würdemann (Bild: privat/BzGA - Montage queer)
Was folgt jetzt, wo wir uns vor Aids nicht mehr zu Tode fürchten? Leben wir freier? Haben wir wieder unbefangener Sex? Einige Gedanken über Freiräume zur Rückeroberung.
Von Ulrich Würdemann
Aids hat in den vergangenen 30 Jahren Schwule, das Leben von Schwulen und den schwulen Sex beeinträchtigt, unterdrückt, dämonisiert. Seit einigen Jahren allerdings verliert der alte Dämon Aids bei uns an Kraft. Immer weniger Menschen sterben in Deutschland an den Folgen von Aids. HIV-Positive, die erfolgreiche Therapien machen, sind so gut wie nicht infektiös. Die 'Kombi' ist hinsichtlich des Schutzes vor HIV-Übertragung wirksamer als die Benutzung von Kondomen.
Dies spricht sich langsam herum. Mit Positiven unter erfolgreicher Therapie Sex zu haben wird attraktiver – auch der vermeintlichen Sicherheit wegen. Jake Sobo (Pseudonym) schreibt in seinem Blog von der "schwer zu schluckenden Wahrheit, dass es … sicherer ist mit HIV-Positiven mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze zu ficken, als mit Typen, die denken, sie seien HIV-negativ". Selbst auf Gayromeo sind inzwischen Hinweise zu finden der Art "Suche Positiven unter der Nachweisgrenze" oder "Ekaf-Sex bevorzugt".
Lustvoller Sex, Sex ohne die Kondom- und andere Scheren im Kopf, wird für viele Schwule, ob HIV-positiv oder nicht, wieder möglich. HIV-Positive sind keine Parias mehr. Von der einstigen Panik wegen der ganz konkreten Todesbedrohung hin zu einem entspannten Management einer chronischen Erkrankung haben wir einige unserer bunten Federn lassen und Veränderungen akzeptieren müssen.
HIV-positive schwule Männer schlucken Pillen – und schluckten Kröten...
"I ain't afraid o' no ghost"- Die Ghostbusters waren etwas schneller erfolgreich in der Dämonenbekämpfung. (Bild: Sony Pictures)
Nie wusste der Staat mehr über Schwule, über schwules Begehren, über schwulen Sex als in den vergangenen Jahren. Unzählige Befragungen, Meinungsbilder, Verhaltensanalysen. Kartonweise Fragebögen, Megabytes an Auswertungen – über schwulen Sex, schwules Leben. Nie konnten Staat und Gesellschaft – auch auf Basis dieser Erforschungen des Schwulseins – leichter, und ohne die Sanktionierung per Strafandrohung, schwulen Sex, schwules Leben regulieren, Kontrollinstanzen etablieren. Ist es purer Zufall, dass viele Orte schwuler Begegnungen, und gerade diejenigen, die nicht kommerziell waren und ferner von Normierung, dass Orte wie Klappen und Parks kaum noch existieren? Hingegen diejenigen meist kommerziellen Orte florieren, die auch für Reglementierung, auch für Prävention zugänglich sind?
Statt wie früher Strafandrohungen gibt es fürs schwule Leben heute Regeln und Normen. Du sollst beim Sex Kondome benutzen! Du sollst auf deine Gesundheit achten! Du sollst nicht Bareback-Sex machen! Du sollst wissen, was du tust! Du sollst dich nicht hemmungslos deinen Lüsten hingeben!
Bewusst gesetzte Normen, die regulierend in unsere Leben als Schwule eingreifen. Sexualität ist hierfür ein mächtiges Thema, das den Zugang zum Individuum erlaubt, Kontrolle ermöglicht. Öffentliches Gesundheitswesen, Public Health – Sexualität wird Angelegenheit von Staat und Gesellschaft. Schwule Sexualität, die früher kaum jemanden interessierte, wird dies vor allem seit Aids. Statt Repression: Thematisierung, Regulierung und Disziplinierung von Sexualitäten ("Bio-Macht", siehe auch Foucault / "Dispositive der Macht"). Diese Kontrollinstanzen, diese Reglementierungen – sie stammen nicht nur von außen. Auch von innen, innerhalb unserer Szenen, durch uns funktionieren sie sehr wirksam. "Sät die Prävention die Samen, aus denen die Community Moralinsäure herstellt?", fragte letztens ein Freund – eine lohnenswerte Frage!
Jahrzehntelang war Aids der Master – Jetzt können wir den Käfig öffnen
Im Film "Longtime Companion" wird in einer Traumsequenz das Ende von Aids herbei gesehnt. So weit sind wir noch nicht. (Bild: MGM Home Entertainment)
Regulierung und Selbst-Regulierung, die einst notwendig, vielleicht überlebensnotwendig waren, sind es vielleicht heute so nicht mehr. Ist es nun an der Zeit, die Aids-Krise auch (schwulen-)politisch zu besiegen? Die Dominanz, die das Thema HIV / Aids für viele von uns hat, einst haben musste, zurück zu drängen? Uns wieder mehr den originär "schwulen" Themen zuzuwenden?
Wir haben als Teil einer kleinen sexuellen Minderheit das Potential einer großen Freiheit. Einer großen Freiheit, jenseits einer heteronormativen Mehrheit zu experimentieren. Einer Freiheit, unsere Formen des Zusammenlebens, unsere Selbst-Definition(en) selbst zu gestalten, statt konformistisch Schubladen und Kategorien der Hetero-Gesellschaft zu übernehmen, zu kopieren und nachzuleben. Welche Form(en) von Beziehung(en) wollen wir leben? Welche Formen von Sex, sexuellem Umgang miteinander wollen wir wie pflegen? Wie gehen wir – gerade auch in größerem Lebensalter – fürsorglich miteinander um?
HIV ist längst nicht mehr der alles dominierende Dämon schwulen Lebens. Die Erfolge von Prävention und Medizin geben neue Freiräume – Freiräume, die wir nutzen sollten. Nutzen wir die Erfahrungen, die wir in Zeiten der Aids-Krise machten (z.B. jene im Umgang mit Krisen, mit Stigmatisierung) für neue Freiräume. Mehr Mut, mehr Experimente! Entdecken wir die Lust zu experimentieren, uns zu gestalten, wieder neu!
Der LGBT- und Aids-Aktivist Ulrich Würdemann beschäftigt sich seit langem publizistisch mit den Folgen von HIV/Aids und dem Leben mit dem Virus. Für sein Engagement wurde er 2003 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Die Deutsche Aids-Stiftung würdigte 2009 mit ihrem Medienpreis sein bis November 2012 betriebenes Blog ondamaris.de.
www.stol.it/Artikel/Politik-im-Ueberblick/Politik/Monti-Ital
ien-kann-Kosten-des-Gesundheitssystems-nicht-mehr-tragen