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Beschneidung
Bist du cut oder uncut?
- 05. Januar 2013 4 Min.

Die Beschneidung von Jesus: Gemälde von Jacob Corneliz Van Oostsanen aus dem Jahr 1517 (Bild: Ed Bierman / flickr / by-sa 2.0)
Weder vom Wohlfühlen her noch aus medizinischer Sicht ergibt sich eine klare Positionierung zur Beschneidung. Gegner ignorieren die antisemitischen und antimuslimischen Auswirkungen der Verbotsdebatte.
Von Heinz-Jürgen Voß
"Was magst du lieber: cut oder uncut?" war eine der beliebten Umfragen in schwulen Medien. Dabei ging es um Empfindung, Spaß am Blasen und am Ficken; es ging um Vorlieben. Mit der "Beschneidungsdebatte" der letzten Monate kam auf einmal ein ganz neues Gefühl auf: Statt sich einfach etwa zu schnellem unproblematischen Sex verabreden zu können, musste man sich vorsehen, nicht unversehens in ein psychologisches Gespräch zu geraten, indem das Un/Cut diskutiert oder gar problematisiert wurde. Also: Therapiesitzung oder Therapiegedanken im Hinterkopf, statt des unverfänglichen Sexes.
Immerhin ergab sich auch ein positiver Nebeneffekt: Man konnte aus den Berichten der Weltgesundheitsorganisation lernen, dass man als "aktiver" – induzierender – Part beim ungeschützten Analverkehr ein nur halb so hohes Risiko habe, sich mit HIV zu infizieren, sofern man vorhautbeschnitten ist – im Vergleich zu Männern mit unbeschnittenem Schwanz. Aber die anderen 50 Prozent des Risikos bleiben auch hier und als "passiver" Partner hat man gar nichts von dieser "Risikoreduktion" – will man auf Nummer sicher gehen, kommt man also am Kondom nicht vorbei, egal ob cut oder uncut.
Woher kommt die Vehemenz der Beschneidungsdebatte?

Ergebnis der queer.de-Umfrage zum Thema Beschneidung von vor einem Jahr. Nach religiösen Motiven hatten wir vorsichtshalber gar nicht erst gefragt...
Interessant ist, so intensiv wie die "Beschneidungsdebatte" in den vergangenen Monaten geführt wurde, dass man zuvor so gar nicht daran gedacht hatte, Un/Cut zu problematisieren. Es gab – sieht man von den auf sexuelle Vorlieben ausgerichteten Clubs auf Datingportalen ab – weder "Betroffenenorganisationen" noch Zeitschriftenbeiträge; bestenfalls konnte man in medizinischen Foren oder der "Bravo" von Jungen lesen, die davon irritiert waren, wenn sie die Vorhaut nicht vollständig hinter die Eichel zurückziehen konnten, sei es auf Grund von Phimose oder wegen wenig Übung.
Vor dem Hintergrund der anfänglichen Stille und dann der Vehemenz der Debatte, stellt sich automatisch die Frage, woher nun diese Vehemenz kam und welche anderen Interessen ihr zu Grunde liegen müssen, als das Wohl der Männer und der Spaß am Sex.
Und bei dieser Suche wird man auch fündig. Denn es vergingen selbst zwischen der Urteilverkündung des Kölner Landgerichts – das häufig für die Debatte verantwortlich gemacht wird – und der aufkommenden Debatte sechs Wochen. Während das Urteil bereits Anfang Mai 2012 verkündet wurde, setzte die Debatte schlagartig am 26. Juni ein. Der "Tagesspiegel" hat die Hintergründe aufgearbeitet, wobei die Sprache immer wieder auf einen Strafrechtler kommt, auf Holm Putzke. Er habe intensiv damit zu tun, dass letztlich die Debatte in Gang kam. Und er hatte dabei auch im Blick, dass insbesondere Juden und Muslime von der Diskussion betroffen wären und sie für ihre Religionen wichtige Riten verzichten müssten.
Vorhautbeschneidung als Schutz vor Harnweginfektionen

Protest gegen Beschneidungen beim San Francisco Pride 2009 (Bild: Franco Folini / flickr / by-sa 2.0)
Von dem einfachen schwulen "Magst du lieber Cut oder Uncut?" kommen wir so zu Politik, mit antisemitischen und antimuslimischen Auswirkungen und ggf. auch Interessen. Dass wird noch deutlicher, weil sich weder vom Wohlfühlen her noch aus medizinischer Sicht eine klare Positionierung zu Un/Cut ergibt. Wie etwa bei Impfungen ergeben sich mit der Vorhautbeschneidung positive Wirkungen und können aber selten auch Komplikationen auftreten. So ist die Vorhautbeschneidung als weitgehender Schutz vor Harnweginfektionen medizinisch wertvoll: So tritt bei zwei Prozent der unbeschnittenen Jungen bereits im ersten Lebensjahr eine Harnweginfektion ein, hingegen nur bei 0,2 Prozent der beschnittenen.
Da mit Harnweginfektionen Schmerzen und Fieber verbunden sind und, sofern sie nicht früh genug erkannt werden, schwerwiegende Folgen etwa die Nieren betreffend verbunden sein können, spricht dieser Fakt durchaus klar für die Praxis der Vorhautbeschneidung und sie ist deswegen etwa in den USA verbreitet. Bei der Empfindsamkeit der Eichel und der Zufriedenheit mit dem Sex ergeben sich keine klaren Unterschiede zwischen beschnittenen und unbeschnittenen Männern. Ob sich Traumatisierungen mit der Vorhautbeschneidung ergeben, lässt sich nicht sagen. Es gibt hierzu keine Hinweise in Studien. Psychologische Auswirkungen konnten hingegen dafür gezeigt werden, wie im Umfeld und in der Gesellschaft mit der Vorhautbeschneidung und den beschnittenen Jungen umgegangen wird: Beschnittene Teenager in Kalifornien äußerten sich mit ihrer Beschneidung zufrieden – in den USA sind etwa zwei Drittel der Jungen beschnitten. Hingegen klagten in Schweden beschnittene Jungen und Männer über Hänseleien – dort sind nur wenige Jungen und Männer beschnitten.
Das ist ein Hinweis darauf, dass es gerade darauf ankommt, wie Menschen zusammenleben und ob sie sich offen und wertschätzend begegnen. Dass gilt auch bzgl. Religion – auch wenn man sich selbst als agnostisch oder atheistisch verorten sollte. Und auch für Religionskritik muss man im Blick haben, wo die herrschenden Positionen in der Diskussion herkommen, wo man selbst möglicherweise Hass und Menschenverachtung fördert, gerade wenn es um Religionen von Minderheiten geht und nicht der Mehrheit.
Heinz-Jürgen Voß (Dr. phil., Dipl. Biol.), aus Hannover und Frankfurt (Oder), forscht und lehrt zu biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien und biologie- und medizinethischen und -geschichtlichen Themen. Zuletzt veröffentlicht: Geschlecht: Wider die Natürlichkeit (2011, Schmetterling), Intersexualität – Intersex: Eine Intervention (2012, Unrast), Interventionen gegen die deutsche "Beschneidungsdebatte" (2012, Assemblage; gemeinsam mit Salih Alexander Wolter und Zülfukar Çetin).

Links zum Thema:
» Mehr Infos zum Buch "Interventionen gegen die deutsche 'Beschneidungsdebatte'" bei Amazon
» Homepage von Heinz-Jürgen Voß
» Michel Chaouli: Markierte Körper (Die Zeit)
» Jost Müller-Neuhof: Chronik einer beispiellosen Debatte (Tagesspiegel)
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Beschneidungen sind im Islam und Judentum ein Ritual mit sehr langer Tradition und man sollte es den Anhängern beider Religionen auch nicht durch ein Gericht verbieten.
Jedenfalls hat Heinz-Jürgen Voß einen sehr guten Artikel über das Thema Beschneidung verfaßt und deshalb vielen Dank dafür.