Hält Lobeshymnen auf Margaret Thatcher und lässt "Section 28" unerwähnt: Philipp Tingler (Bild: Wiki Commons / Dominique Baumann / CC-BY-SA-3.0)
Mit seinem Buch "Wie frei sind noch?" will Philipp Tingler eine "Streitschrift für den Liberalismus" vorlegen – LGBT-Rechte spielen darin keine Rolle.
Von Angelo Algieri
Der Journalist Philipp Tingler fiel bisher als Mode- und Stilberater auf. Auch als bissiger Prosaautor, etwa in "Ich bin ein Profi" oder "Doktor Phil". Nun überrascht der gebürtige Westberliner mit einer Streitschrift. Und zwar ganz entgegen den Zeitgeist – für den Liberalismus. Der knackige Titel: "Wie frei sind wir noch?". Erschienen ist das Buch, das gleichzeitig die neue Essayreihe "Intelligentes Leben" begründet, beim Schweizer Verlag Kein & Aber.
Ganz überraschend ist es nicht, dass sich der 42-jährige Tingler in Philosophie und Wirtschaft auskennt. Denn er hat in St. Gallen, Zürich und London Philosophie und Wirtschaftswissenschaften studiert und schrieb seine Dissertation über "Dichtung und Kritik – Thomas Mann und den transzendentalen Idealismus Immanuel Kants". Er lebt seit Jahren in Zürich mit seinem "besten Ehemann von allen" Richie. Philipp Tingler ist, wie er schreibt, Schweizer aus Neigung.
"Der Markt ist etwas Wunderbares"
Anlass seines Pamphlets sei das in den letzten Jahren viel geschworene Ende des Kapitalismus und die Behauptung, dass Karl Marx doch recht gehabt habe, wie dies etwa (Links-)Intellektuelle und Occupy Bewegung glaubten. Von solch einer radikalen Abkehr vom kapitalistischen System hält Tingler überhaupt nichts. Denn die primäre Ursache der 2007 begonnenen Krise – sei sie nun Banken-, Immobilien- oder Eurokrise genannt – sieht er bei der Politik. Erst dann spricht er von Marktversagen.
Tingler setzt weiterhin auf den Markt und frohlockt: "Der Markt ist etwas Wunderbares". Da der Markt immer noch der Zuteilungsmechanismus für Ressourcen sei, die dem Einzelnen die größtmögliche Freiheit und Entfaltung biete. Zudem sei der Markt die effizienteste und dynamischste Ressourcenallokation. Soweit, so brav zusammengetragene Wirtschaftstheorie.
Gegen Konsumverzicht und Wutkultur im Netz
Tinglers Streitschrift ist im Schweizer Verlag Kein & Aber erschienen
Neben der Forderung eines Systemwechsels, gefährden den Liberalismus laut Tingler auch Alltagsverhalten und -phänomene. So stellt er etwa fest, dass der Konsumverzicht in der Mittel- und Oberschicht das neue "Mein Auto, mein Haus, meine Jacht" sei. Soziale Anerkennung durch Geiz-Statussymbole: Etwa mit Toyota Prius (statt einem Porsche), günstig Tanken (auch wenn die Tankstelle kilometerweit weg ist) oder das Verzehren von Bio-Produkten (in Maßen selbstverständlich). Weitere Gefahren sieht er u.a. im Dilettantismus in der Politik oder in der Empörungs- und Wutkultur im Netz. Er konstatiert eine Ungleichzeitigkeit zwischen technischem Fortschritt und rückwärtsgewandter Moralvorstellung.
Im Mittelpunkt des Liberalismus bzw. Konservatismus angelsächsischer Prägung (was für Tingler das gleiche ist) stehe das emanzipierte Individuum. Es verabscheue den Staat, den es als Bedrohung für seine Ausübung der Freiheit sehe, so der schwule Autor. Zudem akzeptiert der Liberale/Konservative die Permanenz der menschlichen Natur und dass der Mensch fehlbar ist. Der angelsächsische Konservatismus unterscheidet sich eklatant vom kontinentaleuropäischen Konservatismus, der den Staat in den Fokus rückt, auch als Moralanstalt. Darum lobt der Neo-Schweizer mehrmals die Politik und Haltung der kürzlich verstorbenen Margaret Thatcher.
Fundamentalismus als größte Gefahr des 21. Jahrhunderts
Schließlich folgert Tingler, dass die größte Gefahr des 21. Jahrhundert der Fundamentalismus sei – ob nun ideologisch, politisch oder religiös motiviert. Bekämpfen könne man ihn durch sein Gegenteil: den Konservatismus aka Liberalismus. Dessen Ausdrucksform sei die Ironie. Und zwar Ironie als Haltung, um Abstand zum Leben, zu den Dingen und zu sich selbst zu haben. Wobei Tingler darauf hinweist, dass Ironie nicht unbedingt den Konservativen vorbehalten sei. Ein Glück!
Zugegeben: Tingler schreibt brillant. Er beherrscht wie kaum ein anderer die hohe Kunst der Rhetorik. Man ist nicht gelangweilt bei seinem Buch, es macht Spaß und er weiß den Leser herauszufordern.
Allerdings ermüden seine harschen Bashings. Immer wieder geht es gegen die Piratenpartei, dann die klischeehafte Charakterisierung von Internettypen, die sich als Medienwächter aufspielen: Sie seien "provinzielle und missgünstige Untertanenseelen mit Ego-Defiziten". Das hat mit subtiler Ironie wenig zu tun.
Viele Bürgerrechte bleiben unerwähnt
Tingler auf dem Cover seines Prosabands "Juwelen des Schicksals"
Zum Inhalt: Der schwule Essayist verliert kein einziges Wort über LGBT-Rechte und wie sie im Zusammenhang zum Liberalismus zu sehen sind. Überhaupt: Verschiedene Bürgerrechte werden kaum angesprochen – bis auf das selbstbestimmte Informationsrecht und sein Einsatz gegen die totale Transparenz, den Tingler mit Terror gleichsetzt. Ehrlich gesagt, nach dem empörenden Titel "Wie frei sind wir noch?" habe ich mir neben Passagen zur Diskriminierung von Minderheiten auch Überlegungen erhofft, wie eingeschränkt wir sind u.a. durch die sogenannten Anti-Terrorgesetze, restriktivere Meinungs- und Versammlungsfreiheiten, Rauchverbot, Studiengebühren oder ein scharfes Asylrecht – leider keine Antworten. Das Loblied auf Thatcher mit Respekt: Warum hat sie Section 28 eingeführt? Warum gibt es hier statt verklärendem Lob keine liberale Kritik? Ärgerlich.
Kommen wir zu den markttheoretischen Überlegungen. Verwunderlich, dass sich Tingler an die klassische Wirtschaftstheorie klammert. Als Antwort auf die noch herrschende Krise. Da ist selbst die Wirtschaftswissenschaft längst weiter: Neben dem neoklassischen kennt sie das keynesianische Modell oder den Monetarismus. Weg von starren, hin zu dynamischen Erklärungen. Immer mehr auf Empirie gestützte Modelle werden präsentiert. Die Wirtschaftswelt ist komplexer geworden und mit ihr interdisziplinäre Modelle. Einfache Angebot-Nachfrage-Marktmodelle reichen nicht mehr.
Money, money, money must be funny in the rich man's world
Und noch eines sei gesagt: Der Marktliberalismus in allen (theoretischen) Ehren, doch wie schon ABBA sangen: "Money, money, money must be funny in the rich man's world". Ein Umstand, den Tingler beflissentlich unerwähnt lässt: Vermögen und Einkommen. Hätte jeder genügend Vermögen, wäre die schöne marktliberale Welt ein Spaß. Darum sind doch viele Menschen auch in den westlichen Staaten verärgert, wenn sie sehen, dass die Vermögens- und Einkommensschere jährlich immer weiter auseinandergeht. Obwohl sie viel arbeiten, ihre Produktivität sich enorm gesteigert hat.
Auch die Wirtschafts- und Finanz-Krise so kurzsichtig und naiv auf die Politik zu schieben, entbehrt jeglicher Analyse und spricht die privatwirtschaftlichen Akteure frei. Auch ist es zu einfach gesagt, die Staatengemeinschaft musste bei einer weltweit agierenden Wirtschaft gemeinsame Regeln finden. Da müssten alle mitmachen. Und das halte ich momentan für ausgeschlossen. Es braucht nur ein Land auszuscheren, dann stürmen die Konzerne genau dorthin, um ungestört weiter zu zocken.
Fazit: Tingler versäumt es, trotz seines exzellenten Stils auf die brennenden Fragen unserer freiheitsbeschränkten Tage einzugehen. Auch was LGBT-Rechte angeht! Seine Schlussfolgerung, mehr Ironie zu fordern, finde ich – trotz Sympathie – komplett an den dringenden Problemen vorbeiargumentiert. So hat es Philipp Tingler leider verpasst, eine wahre Liberalismus-Debatte anzustoßen. Denn dass die Freiheit – gerade was Bürgerrechte angeht – im letzten Jahrzehnt eingeschränkt wurde, ist unbestritten. Da hätte ich mir eigene Ideen und Lösungen gewünscht!
Infos zum Buch
Philipp Tingler: Wie frei sind wir noch? Eine Streitschrift für den Liberalismus. Intelligent Leben #1. Kein & Aber, Zürich 2013. 80 Seiten. 7,90 €. ISBN: 978-3-0369-5658-9.
Und immer noch gibt es Leute, die ihr marktradikales Mantra, es würde sich alles von selbst regeln, aufsagen.