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"Reseda" und andere Prosa
Schwuler Buchhalter beißt schwulem Praktikanten die Kehle durch
- 28. Juli 2013 4 Min.

Ausschnitt aus dem Cover: Der spießige Buchhalter Reseda hat eine Vorliebe für hübsche junge Männer
Ein neuer Band der Bibliothek rosa Winkel vereint Prosatexte des österreichischen Schriftstellers Alfred Grünewald aus den 1920er und 1930er Jahren.
Von Angelo Algieri
"An einem Dezembertage des Jahres 19** wurde der Privatbeamte Gustav Reseda, ein bisher unbescholtener Mann, nach Verübung eines scheußlichen Verbrechens – er hatte einem jungen Menschen die Kehle durchgebissen – dem Gerichte eingeliefert", doch schon bald wurde er als geistesgestört deklariert und in die Nervenklinik versetzt.
So der furiose und grauenerweckende Beginn der Novelle "Reseda" des österreichischen Schriftstellers und Dichters Alfred Grünewald. Diese Novelle und andere Prosa sind in der Bibliothek rosa Winkel im Hamburger Männerschwarm Verlag erschienen. Der im Jahr 1884 in Wien geborene jüdische und schwule Dichter war in der Zwischenkriegszeit bekannt geworden vor allem durch seine Dichtung: "Sonette an einen Knaben" sowie weitere Gedichtbände wurden breit besprochen. Die Bibliothek rosa Winkel hat in einem eigenen Band Grünewalds Gedichte, die ebenfalls in diesem Frühjahr erschienen sind, versammelt.
Alfred Grünewald kam vor dem Ersten Weltkrieg mit anderen Schriftstellern zusammen und war im Stefan-Zweig-Kreis tätig. Zwischen den Kriegen korrespondierte er mit dem schwulen Berliner Schriftsteller Kurt Hiller, der 1947 nach dem Zweiten Weltkrieg bereits an ihn erinnerte, wie Herausgeber Volker Brühn in seinem Nachwort des Gedichtbandes hinweist.
Als schwuler Jude wurde Grünewald von den Nazis verfolgt

Alfred Grünewald (1884-1942) im Jahr 1910 (Bild: Männerschwarm Verlag)
Der österreichische Autor war eher der (Neo-)Romantik und dem Expressionismus verbunden. Wie der Herausgeber informiert, zieht sich durch Grünewalds Gedichte die Knabenliebe durch. Womit das Begehren von 15- bis 20-Jährigen gemeint ist, wie Brühn klarstellt.
Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März 1938 beging Grünewald einen Selbstmordversuch. In der Reichskristallnacht wurde er verhaftet und ins KZ Dachau gebracht. Diese Erfahrungen werden im Buch "Tulipanien" verarbeitet. Er wurde nach einigen Monaten entlassen mit der Bedingung, das Deutsche Reich zu verlassen. Er floh nach Südfrankreich, wo er jedoch 1942 vom Vichy-Regime nach Deutschland ausgeliefert und dort von den Nazis am 9. September in Auschwitz ermordet wurde.
Lazarus liebt Reseda, doch der hat nur Augen für Walter
Zurück zur Novelle: Nachdem wir lesen, wie es ausgeht, kommt natürlich die Rückblende: Reseda, ein teils biederer Buchhalter, erhält mit Lazarus einen Praktikanten, der angeblich sehr hässlich ist. Dieser Jüngling begehrt ihn, auch wenn Reseda ihn behandelt wie Dreck. Andererseits begehrt Reseda Walter, den jugendlichen Neffen seiner Freundin. Er wird ganz wuschig, wenn er ihn nur sieht. Seine Sehnsucht wird von Tag zu Tag größer, auch wenn Walter ihn abschätzig behandelt… Reseda und der Pratikant steigern sich in ihre unerwiderten Lieben hinein, bis es zum großen Knall kommt…
Diese Novelle zeigt sehr schön die Diskrepanz zwischen rationalem Handeln und starken innerlichen Gefühlen. So gerät ausgerechnet bei Reseda, der doch sehr auf die Etikette bedacht ist, alles aus den Fugen. So weit, dass es zum Mord kommt. Diese Geschichte steht wohl sinnbildlich für viele schwule Männer, die wegen des Paragrafen 175 (oder in Österreich §129) gezwungen waren, ein Leben voller Lügen zu führen. Das heißt aber auch, dass gesellschaftlicher Zwang zum Mord geführt hat. Andererseits litt Reseda an Eifersucht, da er nicht das bekommen hatte, was er wollte. Ein erzwungenes Glücksversprechen, das ihn direkt ins Verderben führt. Doch dieser Text hat auch seine lustigen und heiteren Passagen. Wenn wir so wollen, gipfelt dieser Humor in dem grotesken Schluss. Fazit: Eine brillant-gelungene Novelle, die unbedingt wieder gelesen werden muss!
Grünewald ist im 19. Jahrhundert stehen geblieben

Die Novelle "Reseda" wurde zuvor nie veröffentlicht; die anderen Texte erschienen zwischen 1924 und 1937 in Zeitungen und Zeitschriften
Weniger glanzvoll scheint mir die übrige Prosa in dem Band zu sein. Denn während die Novelle einzigartig, dramaturgisch austariert und sprachlich exakt ist, so enttäuschen leider die anderen Texte. Bis auf das Stück "Der Herr mit dem Entenschnabel" – eine bezaubernde Groteske, die der feinen Gesellschaft den Spiegel vorhält.
Auffallend ist jedoch, dass sich Grünewald – anders als etwa sein Zeitgenosse Bruno Vogel (queer.de besprach "Alf") – mit den brennenden Zeitfragen nicht direkt beschäftigte. Als ob der Erste Weltkrieg, die Armut, die Demokratieverdrossenheit, der Antisemitismus, die Radikalisierung der Politik und die allgemeine Heuchelei überhaupt keine Themen sind, über die man schreiben sollte. Da ist der erwähnte Vogel in dieser Hinsicht engagierter. Er erzählte eine Liebesgeschichte zweier junger Männer im Ersten Weltkrieg – ein wahres schwules, pazifistisches und anti-klerikales Buch. So etwas fehlt bei Grünewald. Es scheint, als ob er im 19. Jahrhundert stehen geblieben wäre, auf einer anachronistischen Insel lebt. Und das inmitten größter gesellschaftlich-politischer Veränderungen!
Dennoch muss man der Bibliothek rosa Winkel und hier allen voran Herausgeber Volker Brühn dankbar sein, dass er die Novelle "Reseda" wieder aufgelegt und sich die Mühe gemacht hat, viele seiner Prosa in einem Band zusammenzufassen. Man erschreckt immer wieder, wie viele Autoren, die von den Nazis ermordet wurden, in der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten sind. Wie groß diese Lücke ist – Wahnsinn! Die Bände der Bibliothek rosa Winkel sind ein Beitrag für das Wiedererinnern an schwule Autoren und deren Werke – auch um an schwule Erzähltraditionen anknüpfen zu können. Herzlichen Dank!
Alfred Grünewald: Reseda. Novelle und andere Prosa. Herausgegeben von Volker Bühn. Bibliothek rosa Winkel 65. Männerschwarm Verlag, Hamburg 2013. 204 Seiten. 18 €. ISBN: 978-3-86300-065-3.

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Eine Korrektur hätte ich noch: Die Novelle Reseda ist kein Wiederabdruck, sondern war bislang nur als Manuskript in einem Archiv vorhanden.
Grüße
Volker Bühn