Von der Polizei unbehelligt greifen Neonazis Teilnehmer des CSD in St. Petersburg an. Nur eines der schockierenden Bilder aus Russland in diesem Jahr.
Regina Elsner (r.) mit Mitstreiterin Zlata beim Berliner CSD (Bild: Olgerta Ostrov)
Ein Gespräch über Boykotte, Städtepartnerschaften und die Lage von Schwulen, Lesben und Transgendern vor Ort mit Regina Elsner von Quarteera e.V.
Verbote und Verhaftungen wegen Homo-"Propaganda", Gewalt beim CSD, Verurteilungen von LGBT-Organisationen als "ausländische Agenten", soziale Netzwerke, in denen schwule Jugendliche vorgeführt werden – die Nachrichten aus Russland werden von Tag zu Tag düsterer. Was kann man dagegen machen, was ist sinnvoll? Norbert Blech sprach mit Regina Elsner von Quarteera e.V., einer Vereinigung russischsprachiger LGBT in Deutschland.
All die Berichte aus Russland haben die Menschen in anderen Ländern entsetzt. Viele haben das Thema auf den CSDs in diesem Sommer aufgegriffen. Nun gibt es, verstärkt durch soziale Netzwerke, diverse Boykottaufrufe. Ist ein Boykott von russischem Wodka sinnvoll?
Ich glaube, dass Boykott-Aufrufe in dem jeweiligen Land selbst sinnvoll sein können, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu wecken, um Unternehmen und die Politik oder den Sport auf ihre internationale Verantwortung hinzuweisen. Das zeigt auch die Antwort des Wodka-Herstellers Stolichnaya auf einen Boykottaufruf.
Den Menschen vor Ort bringen diese Boykotte aber nichts, und die russische Politik treffen sie wirtschaftlich nicht. Im schlimmsten Fall lenken sie noch mehr Aggressionen auf die ohnehin diskriminierten Menschen, nach dem Motto: Ihr seid schuld, dass unsere Wirtschaft beeinträchtigt wird oder unsere internationalen Kontakte leiden.
Auch ein Boykott der olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und deren Sponsoren wird in Online-Petitionen gefordert. Sollte man in Russland noch Sportereignisse besuchen – 2018 folgt die Fußball-WM – oder Urlaub machen?
Ja, man sollte dort Urlaub machen, weil es ein schönes Land ist und dort interessante und gastfreundliche Menschen leben. Die Leute dort wünschen sich einen Austausch, Interesse an ihrem Leben und ihrer Geschichte. Und das Land hat viel zu bieten. Aber man darf keinen Erholungsurlaub erwarten, man muss mit Pöbeleien rechnen, wenn man seine Homosexualität zeigt.
Zu den bevorstehenden Sportereignissen müssen die deutschen und internationalen Gremien und die Fanclubs eindeutig Position beziehen – und am besten zu allen Menschenrechtsverletzungen, die gerade in dem Land passieren. Einzelpersonen sind da sicher überfordert und vor allem weniger geschützt. Aber IOC und NOK sowie der DFB müssten buchstäblich Flagge zeigen und Menschenrechte zu einem Thema machen. Die Hauptsponsoren wie Volkswagen sollten auf ihren Bannern Solidarität zeigen. Sport und Kultur sind immer auch Politik.
Mit mündlichen Zusicherungen, dass die Sportler nicht von den homophoben Gesetzen betroffen sein werden, wie es jetzt vom IOC verkündet wurde, darf man sich nicht zufrieden geben – es geht um Millionen Menschen in dem Land selbst, die nicht nach dem Großereignis wieder ins sichere Ausland reisen können.
In Deutschland gibt es viele Partnerstädte zu russischen Metropolen. Sollten diese Beziehung beendet werden, wie auch teilweise gefordert wird?
Auch hier halte ich einen Boykott für wenig konstruktiv. Man sollte vielmehr die partnerschaftlichen Beziehungen intensiv nutzen, um über Menschenrechte zu sprechen. Die Städte sollten ihre Partner im Rahmen der Austauschprogramme und Besuche verpflichten, über Rechte von Schwulen, Lesben und Transgendern zu sprechen und LGBTI-Organisationen zu besuchen. Bei Schüleraustausch-Programmen sollte das Thema auf der Tagesordnung stehen, Wirtschaftsbesuche sollten nach LGBTI-Inklusion fragen und ihre eigenen Diversity-Konzepte vorstellen. Ich glaube, dass man nur durch das unablässige Reden mit konkreten Menschen und durch lebendige Beispiele eine wirkliche Veränderung schafft.
Der Wagen von Quarteera beim diesjährigen Berliner CSD (Bild: Norbert Blech)
Macht die internationale Politik, speziell die deutsche Bundesregierung genug?
Wie beim Kontakt mit anderen wirtschaftlich starken Ländern, in denen es mit Menschenrechten schlecht aussieht, tut sich die Politik schwer, wirklich aktiv zu werden. Die Kanzlerin und der Außenminister haben inzwischen immerhin ihre Missbilligung der homophoben Gesetze geäußert, das ist viel wert. Auch die europäischen und internationalen Gremien haben sich deutlich kritisch geäußert. Das ist eine Unterstützung für die Menschen dort, aber es juckt die russischen Politiker ziemlich wenig.
Wirklich effektiv gegen eine zunehmend totalitäre Regierung können nur wirtschaftliche Konsequenzen sein, und vor denen hat man offensichtlich Angst. Und es ist dringend notwendig, die Einreisebestimmungen und das Asylrecht für Menschen aus Russland zu überdenken, damit die Zusagen von Unterstützung nicht nur heiße Luft bleiben.
Es gibt Länder, in denen die Lage viel schlimmer ist für Schwule und Lesben. Trotzdem empören sich die Leute gerade hauptsächlich über Russland. Wie erklärst du dir das?
Es liegt vermutlich vor allem daran, dass Russland viel näher ist als z.B. Nigeria oder Uganda, geographisch und psychologisch. Unsere Geschichte ist eng verwoben, Deutsche sind fasziniert von diesem großen und auch mächtigen Land, und haben immer ein bisschen Angst vor ihm. Das, was in Russland passierte, hatte immer auch Auswirkungen auf Deutschland. Und ich denke, dass es hier eine hart erkämpfte Sensibilität für undemokratische Systeme gibt – dass Russland sich als Demokratie deklariert und gleichzeitig offen diskriminierende Gesetze erlässt, sorgt für Empörung und erinnert an die dunklen Kapitel der deutschen Vergangenheit.
Kommt die jetzige Aufregung zu spät?
Es ist nie zu spät, wenn man anfängt konsequent zu handeln und sich nicht nur aufzuregen.
Was kann man von Deutschland aus tun?
In erster Linie sich und andere informieren, das Thema präsent halten. Die Politik darauf verpflichten, Menschenrechte international zu schützen und sie nicht gegen Wirtschaftsinteressen auszuspielen. Und man kann finanziell die Organisationen unterstützen, die ab jetzt mit hohen Strafen für ihre Arbeit belegt werden.
Die Petersburger Organisationen "Coming Out" und "Side by Side" sind bereits verurteilt worden, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren, ihre Arbeit wurde als politische Tätigkeit, die vom Ausland finanziert wird, eingestuft. Dieses "Agentengesetz" stigmatisiert Menschenrechtsorganisationen, fordert sehr hohe Geldstrafen und bringt die Organisationen an den Existenzrand. Dabei leisten sie dringend notwendige psychologische und juristische Hilfe für russische LGBTI. Ihre öffentlichen Veranstaltungen wie Info-Broschüren oder Demonstrationen mussten sie bereits einstellen. Sie brauchen dringend finanzielle Unterstützung.
In Deutschland haben einige CSDs, auch mit Hilfe von Sponsoren, der LSVD, Botschaften und Parteistiftungen immer wieder Aktivisten aus Russland eingeladen. Sollte man auch als Privatmensch den Leuten Möglichkeiten zum Besuch bieten? Wer vermittelt so etwas?
Ja, Austausch ist sehr wichtig, und gerade LGBTI, die nicht aus Petersburg und Moskau kommen, brauchen den Blick über den Tellerrand, um zu sehen und selbst zu erleben, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Da können auch private Initiativen sehr hilfreich sein, die mal Flugtickets oder Übernachtungen übernehmen. Bei der Vermittlung können deutsche Organisationen helfen, die direkten Kontakt mit LGBTI-Organisationen in Russland oder anderen Ex-Sowjet-Ländern haben, z.B. der LSVD Hamburg, der CSD München oder auch wir von Quarteera e.V.
Wie wirken sich die Gesetze und die Stimmungsmache auf die Schwulen, Lesben und Transsexuellen in Russland, auf die Szene aus?
Die Gesetze verändern in erster Linie die gesellschaftliche Stimmung, die Schwule und Lesben umgibt. Die Szene hat ja schon existiert, als es noch Haftstrafen gab, es wird sie auch jetzt weiter geben. Aber die Menschen sind verängstigt, mehrfach wurden Clubs überfallen, man kann auf der Straße angepöbelt werden, es gibt keinerlei Schutz vor Gewalt oder Rechtsschutz bei der Strafverfolgung.
Ich befürchte, dass es wieder eine geschlossene Subkultur wird, ohne gesellschaftliche Sichtbarkeit. Es gibt jetzt schon eine große Zahl von LGBTI, die gegen einen vermeintlich "provozierenden" politischen Aktivismus sind und nur in Ruhe in ihren vier Wänden leben wollen, wie seit vielen Jahren.
Die neueste Entwicklung: Neonazis locken schwule Jugendliche in eine Falle und demütigen sie in Videos, die in sozialen Netzwerken verbreitet werden
Wenigstens gibt es das Internet mit seinen Möglichkeiten zur Information und zum Kennenlernen von Freunden und Dates. Doch ausgerechnet das wird jetzt von Nationalisten ausgenutzt, um schwule Jugendliche in Fallen zu locken und an den Pranger zu stellen. Wie reagieren Behörden, Medien und Öffentlichkeit auf diese widerlichen Vorfälle?
Bisher reagieren die russische Öffentlichkeit und erst Recht die Behörden fast gar nicht auf diese Gewalt. Bei Facebook und VKontakte.ru werden die Vorfälle verbreitet, aber das ist eine recht eingeschränkte Öffentlichkeit in Russland selbst. Einige Gruppen wurden geschlossen, andere wurden neu geöffnet. Einige eher liberale Medien haben darüber berichtet. Leider gibt es aber auch viel Unterstützung für dieses Vorgehen, gerade in der Provinz. Und der Ombudsmann für Kinderrechte ist der Meinung, dass die Gesellschaft das Recht hat, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes sie vor "sexuellen Perversionen" schützt…
Mein Eindruck ist, dass zugleich immer mehr Schwule und Lesben auf die Straße gehen.
Das ist wirklich eine sehr erfreuliche Entwicklung, bei aller Tragik. Gerade jüngere Menschen wollen die Diskriminierung nicht einfach hinnehmen, sie wollen für ihre Rechte kämpfen, und sie wissen, dass nur Sichtbarkeit wirklich etwas verändern kann. Es gibt auch immer mehr Heterosexuelle, die sie dabei unterstützen. Es ist beeindruckend, wie wenig sie sich von Verhaftungen und Gewalt einschüchtern lassen – sie ahnen, dass es nicht mehr viel zu verlieren gibt.
Prognosen sind schwierig. Aber wird es die nächsten Jahre noch schlimmer – was kann noch folgen? Oder ist jetzt erstmal der Tiefpunkt erreicht?
Die Entwicklung ist schon ziemlich weit unten, aber ich befürchte, dass es noch tiefer geht. Einige Gesetzesprojekte stehen noch aus, z.B. über den möglichen Entzug von adoptierten Kindern aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und über eine noch stärkere Zensur im Internet. Das "Propaganda-Gesetz" nimmt gerade erst Fahrt auf, mit den ersten Anklagen und Einreiseverboten für Ausländer.
Es gibt neue politische Schauprozesse, eine andauernde Unterdrückung von NGOs – das Vorgehen gegen LGBT ist ja nur ein Teil der Probleme. Aber die gesellschaftliche Unzufriedenheit wächst auch, und die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen für die eigenen Rechte. Schwer zu sagen wovon es abhängen wird, welche Tendenz stärker sein wird.
Quarteera gibt es erst seit wenigen Jahren, wurde aber mit spektakulären Aktionen zum Berliner CSD bekannt – ein Bild des Aktivisten Wanja Kilber, das Putin und Medwedew in Pierre-et-Gilles-Art zeigte, wird seitdem überall auf der Welt zur Berichterstattung genutzt. In der Hauptstadt gibt es ein regelmäßiges Treffen in den Räumen des LSVD. Die Aktivitäten, darunter Austausch und Aufklärungsarbeit, weiten sich immer mehr aus. Quarteera bittet dazu auf der Vereins-Homepage um Spenden. Beim CSD in Hamburg am nächsten Wochenende ist Quarteera mit einer Fußgruppe vertreten.
Besuchen Sie Russland! Trinken Sie russischen Vodka!
Das ist eine Form der Meinungsmache, die ich ablehne. Angeblich schaden Boykotte der russischen Wirtschaft nicht und man solle eh die Fresse halten, weil es am Ende ja nur wieder heisst, daß die Schwulen an allem schuld sind und da sollte man lieber kriechen und Stiefel lecken.
Wird es denn gehen?
Die Russen sind stolz und stark und das gilt auch für die russischen LGBT-Gemeinschaft.
Es ist gut, daß Vertreter der weltweiten LGBT Community nach Russland reisen und dort helfen aber bewirken können nur die Russen selbst etwas.
Eine einzelne Firma zu boykottieren, ist purer Aktionismus. Es wäre viel interessanter, ganz deutlich und mit großer Aufmachung zu verbreiten, welche deutschen Firmen die russische Politik maßgeblich mittragen.
Kann sowas mal bitte recherchiert werden und könnten wir dann bitte in Deutschland Druck ausüben, statt verkausalisiert über Probleme zu sprechen, die wir gar nicht richtig erfassen können?