Mit diesem Bild berichteten wir vor rund zwei Wochen von der Folter von jungen Schwulen durch Neonazis in Russland. Mittlerweile soll das abgebildete Folteropfer an den Folgen verstorben sein. Doch während die Polizei eine Razzia unter anderem bei dem im Bild rechts zu sehenden örtlichen Anführer der Neonazis durchführte, ist von einem Mordvorwurf keine Rede.
Berichte, ein Teenager sei in Russland nach Folter durch Neonazis gestorben, sind unbestätigt und sehr wahrscheinlich falsch. Eine Entwarnung ist das allerdings nicht.
Von Norbert Blech
"Sie ist eine Person. Ein Arzt erklärt sie für tot, nicht die Nachrichten." Dieses schöne Zitat aus der US-Serie "The Newsroom" sollte sich mancher Kollege einrahmen und an die Wand hängen.
Seit Tagen geistert eine Meldung einer dubiosen "Menschenrechtsorganisation" durch das Netz, ein von russischen Neonazis gefolterter Teenager sei inzwischen an den Folgen dieser Behandlung gestorben. Während queer.de sich entschieden hat, aufgrund einer unsicheren Quellenlage zunächst nicht zu berichten, begannen damit gestern zwei populäre Homo-Portale aus Großbritannien. Seitdem geht diese vorzeitige und höchst wahrscheinlich falsche Meldung durch die LGBT-Medien der Welt – und durch alle sozialen Netzwerke, wo sie stark verbreitet und entsetzt kommentiert wird.
Nun ist es weder falsch noch unüblich, dass man manche Meldungen verbreitet, die man selbst nicht verifizieren kann: Die Tötung von Schwulen im Irak oder Iran ist da ein Beispiel. Man darf so ein Thema auch gar nicht ignorieren, muss aber den Lesern mitteilen, welche Quellen man hat und warum man diese für glaubhaft hält. Und man muss zumindest nach sorgfältiger Abwägung das Gefühl haben, dass es um mehr geht als nur ein Gerücht.
Die Meldung aus Russland hingegen ist objektiv nicht mehr als ein Gerücht. Ein Blick mit Google Translate auf die einzige Quelle und eine gesunde Skepsis hätten ausreichen müssen, diese Geschichte zunächst nicht zu verbreiten.
Nun hat sich, unter öffentlicher Hysterie, die Beweislast vermeintlich umgekehrt. Der Gegenbeweis – der Mann lebt noch – ist derzeit unmöglich; queer.de sieht sich durch das Vorpreschen der Kollegen letztlich auch zu einem angreifbaren Spekulieren gezwungen. Aber es gibt keinerlei Beweis dafür, dass der Mann gestorben ist, und zahlreiche Indizien, dass die Meldung falsch ist.
Die Organisation
In einem neuen "Teaservideo" zeigen die Neonazis den Beginn des Verhörs des angeblich verstorbenen Mannes (der im Video deutlich älter erscheint als ein Teenager)
Alle internationalen Medienberichte, aus Russland gibt es übrigens keine, beruhen zunächst alleine auf einer Meldung einer US-Menschenrechtsorganisation namens "Spectrum Human Rights Alliance".
Diese war vor zwei Wochen durch den ersten englischsprachigen Bericht zur Folter durch Neonazis plötzlich weltweit bekannt geworden. Die "Spectrum"-Meldung war nicht mehr als eine oberflächliche, aber polarisierende Zusammenfassung einiger russischer Medien, die zu dem Zeitpunkt schon seit Wochen über die Vorfälle berichteten. Queer.de hatte das zum Anlass für eine ausführlichere Meldung genommen – und bereits die Seriosität von "Spektrum" angezweifelt (queer.de berichtete).
Obwohl sich die Organisation angeblich mit zahlreichen Programmen und vielen Mitarbeitern für Schwule, Lesben und Transgender in gleich mehreren Ländern des früheren Ostblocks einsetzt, ist sie dort gänzlich unbekannt. Auch die Homepage benennt bislang keine konkreten Aktivitäten oder etwa Ansprechpartner.
"Spectrum" nutzt die mit zahlreichen schockierenden Bildern geschmückten Berichte zur Spendengewinnung. Diese seien für US-Steuerzahler nicht absetzbar, weil man im Ausland arbeite, heißt es auf der Homepage. Merkwürdig nur, dass das bei Human Rights Watch oder Amnesty International möglich ist.
Damit nicht genug: Die Folteropfer wurden auf den Bildern nicht unkenntlich gemacht, "Spectrum" verbreitete Kopien der Foltervideos gar selbst auf Youtube. Keine seriöse Menschenrechtsorganisation würde sich das erlauben, zumal in Folge mit etwas gerechnet werden musste, was dann auch eintrat: Eine Verbreitung der Bilder und Videos in Medien und sozialen Netzwerken weltweit. Die russischen Neonazis werden sich ins Fäustchen gelacht haben.
Die Quelle
In dem neuen Bericht zum angeblichen Todesfall, ebenfalls von schockierenden Bildern und Aufforderungen zum Spenden und Unterzeichnen einer Petition umrandet, bezieht sich "Spectrum" einzig auf einen Blogeintrag eines russischen Arztes, der privat im Internet gegen die Neonazis in seiner Region Stellung bezieht.
Seine Quellen dafür sind augenscheinlich nur soziale Netzwerke und das, was ihm genau diese Neonazis erzählen. Schreibt er in dem von "Spectrum" verlinkten Blogeintrag in der Überschrift noch auf Englisch, das Folteropfer sei gestorben, ist später im russischen Teil von "offenbar" die Rede. Auf Nachfragen zu Quellen reagierte er dort nicht, schrieb dafür aber später in anderen Einträgen, Putin habe die Exekution von Schwulen in Auftrag gegeben. Auch sei seine ganze Region ein "Konzentrationslager für Homosexuelle".
Sieht so eine seriöse Quelle aus? Ist, wie "Spectrum" und nachfolgende Berichte es formulieren, jemand ein "Menschenrechtsaktivist", wenn er an einen führenden Neonazi schreibt, dass er selbst Schwule noch abscheulicher findet als der Neonazi selbst, nur mit den Taten nicht einverstanden ist?
In seinem VKontakte-Profil kommentiert der Arzt selbst, dass er von dem vermeintlichen Tod nur aus Hörensagen berichten kann. Doch warum sollen die Neonazis, die ihn und seine Mutter derzeit bedrohen, ihm die Wahrheit sagen? Er halte einen Tod nach der geschilderten Folter, einer rektalen Einfuhr von Montageschaum, medizinisch für glaubhaft, schreibt der Mann noch. Nur existieren bislang weder Bilder noch Videos, die diese Verletzungen dokumentieren (wie überhaupt Verletzungen; das Rote aus den Bildern ist ganz offensichtlich Farbe).
Selbst Details stimmen nicht: Während der Arzt aufgrund von Hörensagen berichtet, ein Mitbewohner des Mannes hätte bei seiner Folter spontan mitgeholfen, ist den Bildern zufolge die Folter in der Wohnung der Täter geschehen. Auch ist unwahrscheinlich, dass das offenbar usbekische Opfer nicht um Hilfe schrie, weil er dafür zu wenig Russisch konnte.
Die Behörden
Die Folter geht weiter. In einem neuen Video führten etwa die Jugendlichen von "Occupy Gerontophilia" einen 17-Jährigen vor, der sich mit einem 22-Jährigen treffen wollte.
Russische LGBT-Medien haben bisher nicht über den vermeintlichen Mord berichtet. Homo-Aktivisten können ihn nicht bestätigen, aber auch nicht völlig ausschließen: Das Folteropfer ist ihnen namentlich nicht bekannt.
Es ist allerdings selbst in Russland höchst unwahrscheinlich, dass Polizei und Massenmedien einen Mord oder zumindest das Verschwinden eines Mannes, nach Angaben der Neonazis ein usbekischer Kellner aus einer Stadt mit gerade mal 30.700 Einwohnern, nicht mitbekommen, ignoriert oder verschwiegen haben sollen. Und das wochenlang: Der Mann soll aufgrund der Folter verstorben sein, die bereits vor über zwei Wochen stattfand.
Dazu kommt, dass die russischen Behörden nach langem Zögern zaghaft eingeschritten sind, wovon "Spectrum" nicht berichtet: Am 1. August hatten Polizisten in der Stadt Kamensk-Uralski, in der sich der Mord abgespielt haben soll, mehrere Wohnungen von Neonazis durchsucht – alles Personen, die auf den Bildern der Folter des Mannes zu erkennen sind.
Die Männer wurden nach einer kurzen Festnahme wieder freigelassen. Es wird aber weiter ermittelt und offenbar eine Anklage unter anderem wegen Körperverletzung vorbereitet. Zahlreichen (!) Medienberichten zufolge geht die Polizei von 19 Folterungen aus, konnte elf Opfer identifizieren und von vier von ihnen Zeugenaussagen einholen. Während Behörden und Medien ausführlich über die Vorwürfe und Hintergründe berichteten und penibel Waffenfunde dokumentierten, sprach niemand von einem Mordvorwurf.
Nazi-Terror weitet sich aus
Daher muss man wohl von einer Falschmeldung ausgehen, die den Blick ablenkt von Verbrechen, die abscheulich genug sind. Denn die "Occupy Pedophilia"-Bewegung macht in vielen Regionen ungestört weiter. Allein in den letzten Wochen tauchten viele neue Videos aus mehreren Ecken Russlands auf, in denen Schwule in eine Falle gelockt und öffentlich vorgeführt wurden. Während die Behörden zumeist untätig bleiben, kommen die sozialen Netzwerke mit dem Löschen von Videos kaum hinterher: Allein auf Youtube finden sich tausende.
Insgesamt soll es "Occupy"-Gruppen in über 30 Städten geben, berichten russische Medien – und das mittlerweile auch in Weißrussland, der Ukraine und Moldawien. Zumindest aus Minsk liegt dafür eine Bestätigung vor: In einem Video wurde ein 29-Jähriger gedemütigt. Der örtliche Polizeichef sagte, er sehe in der "Selbstjustiz" einen "gefährlichen Trend".