Ralf Buchterkirchen untersucht in seinem Buch "'… und wenn sie mich an die Wand stellen' - Desertion, Wehrkraftzersetzung und 'Kriegsverrat' von Soldaten in und aus Hannover 1933-1945" den Zusammenhang von Militarismus und Männlichkeiten (Bild: privat)
Der verqueert.de-Blogger Ralf Buchterkirchen hat ein friedenspolitisches Buch geschrieben. Er geht Männlichkeitsnormen nach und zeigt, dass individuelle Lebensweisen der militärischen Logik widersprechen.
Interview: Ulrike Kümel
Ralf, du nennst dein Blog "verqueert". Ich assoziiere da, dass du die Begriffe "schwul" oder "LGBT" nicht für sinnvoll hältst…
Die Begriffe sind mir zu eingeschränkt. Mir geht es nicht um schwule oder lesbische Politik, sondern darum, außerhalb einer heteronormativen Denknorm agieren zu können. Vor allem aber geht es mir darum, Männlichkeitsnormen und damit verbundene Rollenbilder zu hinterfragen. Das mache ich nicht nur auf dem Gebiet klassischer LGBTI-Politik, sondern vor allem in der Verknüpfung mit anderen Politikfeldern, insbesondere in der antimilitaristischen Arbeit.
Und wie verqueerst du die Dinge?
Das mache ich, indem ich bei aktuellen und historischen Themen stets die zu Grunde liegenden Geschlechterrollen und die weiteren normativen Vorstellungen thematisiere. Ein Beispiel sind Deserteure. Ich habe mich intensiv mit Desertion von Soldaten des Zweiten Weltkrieges beschäftigt und versucht über gesellschaftlich und politisch aufgebaute Männlichkeitskonstruktion zu verstehen und nachzuvollziehen, welchem Druck Menschen ausgesetzt waren, die sich aus was für Gründen auch immer, dem Mitmachen am Töten wiedersetzt haben. Wie wirkmächtig die heterosexuelle Männlichkeitsnorm funktioniert, wird hier sehr deutlich. Und solche Untersuchungen sind wiederum für all die Bestrebungen interessant, die sich gegen Normierungen wenden.
In jahrelanger Recherche hat Ralf Buchterkirchen die Daten von 51 gehorsamsverweigernden Wehrmachtssoldaten ermittelt, die aus Hannover kamen oder dort hingerichtet wurden
Wie können wir uns das vorstellen? Hast du einmal ein aktuelles Beispiel?
Wie gesetzte Rollenbilder funktionieren, wird am Beispiel der Bundeswehr sehr deutlich. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht ist sie aktuell gezwungen, für sich zu werben und sich als "normale" Arbeitgeberin zu präsentieren. Das passiert auf mehreren Ebenen: Die Werbung versucht an Technikbegeisterung – durchaus auch martialische – anzuschließen; Härte, Abenteuerlust und Stärke werden präsentiert, aber sie muss zunehmend auch als "familienfreundlich" erscheinen.
Es wird also gezielt an heroische Männlichkeitsbilder angeschlossen. Es werden aber gesellschaftliche Aktualisierungen, die sich in Männlichkeitskonstruktionen zeigen, zumindest partiell eingebunden. Gleichzeitig wird in der Werbung der Bundeswehr das Militärische in einer "Bundeswehrkarriere" verschwiegen und kleingeredet. Gut ist, dass die Werbung der Bundeswehr trotz des Einsatzes großer finanzieller Mittel und trotz des Anspielens auf bestimmte Männlichkeitsbilder (eben Affinität zu Technik etc.) derzeit kaum Erfolg hat, da junge Menschen sich zunehmend gegen soldatischen Gehorsam entscheiden – sie leben lieber bunt als soldatisch.
Bedeutsam ist auch der Blick auf Kameradschaft und Homosexualität: Armeen waren lange Zeit ausschließlich – und die Bundeswehr ist es aktuell weitgehend – ein homosozialer Raum. Lauter junge Männer sind dort zusammen. Und hier ist es für soldatischen Gehorsam auch bedeutsam, geschlechtliche Handlungen – freundschaftliche und sexuelle – zu sanktionieren.
In meinen Arbeiten zu Desertion wurde etwa deutlich, dass sowohl in der Wehrmacht als auch in der Bundeswehr Gehorsam und "Manneszucht" zentral gesetzt wurden und etwa auch wichtiger als "Kameradschaft" oder gar Freundschaft angesehen wurden. Erich Schwinge, zunächst in der NS-Militärjustiz aktiv, dann in der BRD-Gerichtsbarkeit, erläutert noch 1978: "Kernstück der militärischen Ordnung ist die Manneszucht"; es bedürfe in der Armee "eines Funktionierens, das im menschlichen Sektor nur durch klare und vorbehaltlose Einordnung in das militärische Gefüge erreicht wird."
Der Protest gegen das Militär wurde schließlich auch deshalb zum Ärgernis für die Kriegsstrategen, weil als ein Ergebnis der Hinterfragung der Männlichkeitsnormen Pink als "unmännliche" Farbe zum Symbol des Widerstandes gewählt wurde.
Du bist in der Friedensbewegung aktiv. Gibt es einen Zusammenhang mit deinem queeren Engagement?
Auf jeden Fall. Nicht umsonst waren Schwule nie im Militär wirklich willkommen – und sind sie es heute nur aus Imagegründen und aus militärstrategischen Interessen. Die aktuellen Kriege werden vordergründig mit Homosexuellen- und Frauenrechten begründet, die anderen Interessen vernebelt, so dass es für die Armee als notwendig erscheint, "emanzipatorisch" und "schwulenfreundlich" zu wirken. Gleichzeitig gilt weiterhin, dass Schwulsein in gewisser Weise die normativen Männlichkeitsbilder angreift. Ohne das Selbstverständnis von Soldaten als heroische Kämpfer und den erwarteten Rollenvorstellungen könnte Militär nicht funktionieren.
Warnung an Soldaten vor dem Vorwurf der Fahnenflucht drei Monate vor Ende des Krieges im Februar 1945 in Danzig (Bild: Wiki Commons / Bundesarchiv, Bild 146-1996-030-12A / CC-BY-SA)
Mit den Bezügen zu Desertion und Männlichkeiten weist du auf dein aktuelles Buch "Und wenn sie mich an die Wand stellen… " hin. Führst du im Buch nur historisch aus, wie Geschlechternorm und Militärisches zusammenspielen, oder gibt es einen direkten Bezug zu heute?
In dem Buch stelle ich auf Basis der Konstruktion von Männlichkeitsnormen und ergänzendem Repressionsapparat der NS-Militärjustiz die Biographien von Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und sogenannten Kriegsverrätern aus Hannover bzw. dort hingerichteten Soldaten vor. Dabei wird nicht nur die "Tat" betrachtet. Auch das Schweigen und die Scham der Opfer, gespeist aus den herrschenden Männlichkeitsnormen sind im Blick.
Auch in den modernen Armeen (und nicht nur dort) wirken klassische Rollenbilder fort, die es etwa als "unmännlich" erscheinen lassen, wenn ein Soldat eine psychische Erkrankung nach einem Kriegseinsatz eingesteht. Stigmatisierungen sind auch heute mit dem Ausscheren aus einer Norm verbunden – gleichzeitig muss es selbstverständlich darum gehen, dass Deutschland einfach keinen Krieg mehr macht und damit Zivilisten und Soldaten Tod, Verletzungen, Traumatisierungen erspart.
Spielt queer in deinem Buch eine Rolle?
Ja. Es ist quasi ein Gegenstück zu den festgefügten Männlichkeitsnormen. Queer beinhaltet Offenheit, wendet sich gegen militärische und sonstige staatliche Gewalt gegen Menschen. Queer waren die Kämpfe in der New Yorker Christopher-Street – gegen die Polizeigewalt. Und zentraler Angelpunkt damals war, dass sich die gegen die Polizeigewalt zur Wehr setzenden auch deutlich gegen klare Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen aussprachen.
Queer bietet also den Ansatz zum Hinterfragen und Angreifen von Norm. Aus dieser Sicht wende ich mich dem Thema Desertion zu. Ich arbeite gerade die individuellen Motive der Menschen heraus, die sich dem Gehorsam verweigerten. Es waren nicht einfach alle "politische Widerstandskämpfer", sondern einige hatten einfach den Krieg satt, wollten zu ihren Familien, konnten das Töten nicht mehr sehen. Solch individuellen Motive kamen bisher in der Forschung zu kurz – ich halte sie für bedeutsam, auch deshalb, weil das Leben, das bunte Leben von Menschen diametral soldatischer Ordnung, Kriegsinteressen und dem Töten von Menschen entgegensteht. Ein Deserteur schrieb in einem Abschiedsbrief an seine Familie: "Das Leben hat das Recht." So ist es.
Wie erging es den Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und Kriegsverrätern nach 1945? Wurden sie rehabilitiert und gewürdigt?
Den wenigsten ist bewusst, dass es bis 2004 gedauert hat, bis die Deserteure rehabilitiert wurden. Urteile gegen Kriegsverrat wurden erst 2009 aufgehoben. Die Partei Die Linke hatte sich im parlamentarischen Verfahren sehr stark gemacht – letztlich mit Erfolg. Aber auf diese Weise wurde nur Rehabilitation erreicht. Einerseits ging der Rehabilitation eine lange Zeit des Schweigens und der Scham voraus. Andererseits sind wir noch heute weit entfernt davon, dass diejenigen, die den Gehorsam verweigerten und damit aus der militärischen Logik ausbrachen, anerkannt und gewürdigt sind.
Während es zahlreiche heroische Soldatendenkmale in Deutschland gibt, muss für jedes Deserteursdenkmal lange gerungen werden. Eine öffentliche Diskussion gegen militärische Logik und für das vielfältige, individuelle, nicht-identitäre Leben von Menschen gibt es fast nicht. Immerhin: Wo Menschen "lieber bunt als soldatisch" leben, gibt es Potenzial, diese gelebte Praxis der Menschen auch in eine öffentliche Debatte und die politische Entscheidung gegen militärische Logik umzusetzen.
Zur PersonRalf Buchterkirchen betreibt das Blog
verqueert.de und ist seit vielen Jahren lesbisch-schwul und queer aktiv. Er veröffentlicht in dem Oldenburger Szenemagazin
Rosige Zeiten und publiziert dort regelmäßig "Parlamentsnotizen" – zu aktuellen politischen Entwicklungen – und hatte zur Bundestagswahl in einem "Parteiencheck" gründlich die Wahlprogramme der Parteien zu LGBTIQ-Themen
analysiert. Beruflich arbeitet Ralf als Wirtschaftsinformatiker und ehrenamtlich in der antimilitaristischen Arbeit.
"Es gelte nicht nur gegen Staaten vorzugehen, die als "Störer" klassifiziert werden - etwa Iran und Venezuela -, man müsse auch einen angemessenen Umgang mit aufstrebenden Ländern finden, die nicht bereit seien, sich dem Westen umstandslos zu fügen. Dies könne - nach dem Muster der Bonner Ostpolitik der 1970er Jahre - auch unter Zuhilfenahme kooperativer Techniken ("Wandel durch Annäherung") geschehen. Dass für die deutsche Weltpolitik auch militärische Mittel "bis zum Kampfeinsatz" zur Verfügung stehen müssten, steht für die Teilnehmer des Projekts außer Frage. Die Ergebnisse sind in einem Papier niedergelegt worden, das nun von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und dem German Marshall Fund of the United States (GMF) gemeinsam publiziert worden ist.
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Nun müsse Deutschland in die Bresche springen, das bislang, "zumindest im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft, seinem geopolitischen Gewicht und seinem internationalen Ansehen, eher selektiv und zögerlich Gestaltungsangebote gemacht" habe. Noch sei die Bundesrepublik "eine Gestaltungsmacht im Wartestand". Die Autoren erklären jedoch: "Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen."
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Demnach werde sich die deutsche Außenpolitik nicht nur "weiterhin der gesamten Palette der außenpolitischen Instrumente bedienen, von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Kulturpolitik bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt". Sie werde darüber hinaus auch nichtstaatliche Reserven nutzen. So seien etwa "bessere kognitive Fähigkeiten" für die Gestaltung der Weltpolitik vonnöten; "Universitäten, Forschungseinrichtungen, Stiftungen" könnten diese vermitteln. Ziel müsse eine "Denklandschaft" sein, "die nicht nur politische Kreativität ermöglicht und pflegt", sondern auch "imstande ist, politische Optionen schnell und in operationalisierbarer Form zu entwickeln". "Eine größere deutsche Rolle auf globaler Ebene" werde in der Tat "mit einem höheren Aufwand an Ressourcen verbunden sein". Parallel müsse die Zustimmung der Bevölkerung gesichert werden: Die staatliche Außenpolitik müsse lernen, "ihre Ziele und Anliegen effektiver zu kommunizieren".
www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58720