Abdellatif Kechiches Film kommt ohne dramatische Geigen daher, die einem verschmalzten Coming-out den Rest geben (Bild: Alamodefilm)
Ab Donnerstag im Kino: "Blau ist eine warme Farbe" ist die grandiose Inszenierung der jungen Liebe zwischen den beiden jungen Frauen Adèle und Emma.
Von Sarah Jäckel
Das Thema an sich ist weder neu noch aufregend. Girl meets girl, für eine von beiden ist es das erste Mal. Liebe, Verwirrung, Eifersucht, Betrug – alles Zutaten, die altbekannte Erinnerungen wecken. Nämlich die eigenen. Und genau das macht "Blau ist eine warme Farbe" zu dem mit Abstand besten Lesbenfilm, den ich jemals gesehen habe.
Dieser herrlich unprätentiöse Film kommt ohne dramatische Geigen daher, die einem verschmalzten Coming-out den Rest geben. Keine wilden Fluchten vor Ehemännern sind nötig und Sex wird weder mit dem Tod einer Protagonistin bestraft noch unter der Bettdecke im Weichzeichner versenkt. Denn dieser Film ist direkt in bester existenzialistischer Tradition. Direkt in der Führung der Handkamera und direkt in der schnörkellosen Handlung.
Lesben haben Sex wie alle anderen Menschen auch
Bundesweiter Kinostart ist am 19. Dezember 2013
Regisseur Abdellatif Kechiches Inszenierung ist eine klassische Coming-of-Age-Story. Adèle datet Jungs, so wie es alle ihre Freundinnen eben tun. Doch sie experimentiert in Gedanken – und real. Dabei durchlebt sie wohl wie wir alle eine Zeit der Unsicherheit. Der Druck der Gruppe auf der einen Seite, das eigene, noch unklare Verlangen auf der anderen. Emma öffnet ihr die Augen für das, was sie wirklich will. Und erklärt ihr in meiner persönlichen Lieblingsszene den Existentialismus in ein paar Sätzen. Handlungen haben Konsequenzen, die du tragen musst. Adèle lernt sie zu tragen, soviel sei verraten.
"Blau ist eine warme Farbe" ist mit nahezu drei Stunden erzählender Kamera ein Film, der so ziemlich jeden Rahmen des aktuellen Mainstream-Kinos sprengt. Ohne Postproduction, Special-Effects und großen Filmsets, dafür mit manchmal wackelndem Bild und – zumindest im Original – schwankendem Ton wirkt er wohltuend altmodisch. Mehr 1970er als 2010er Kino. Und doch ist er radikal im Jetzt. Denn er reflektiert die multikulturelle und multisexuelle Gesellschaft, in der wir tatsächlich leben, ohne jeglichen sozialpädagogischen Ansatz.
Lesbische Liebe muss nicht mehr erklärt oder gerechtfertigt werden. Und Lesben haben Sex, so wie alle anderen Menschen eben auch. Schnell, intensiv, ohne endlose, nervtötende Vorgeschichten wie in "Claire of the Moon". Regisseur Abdellatif Kechiche setzt die Körper dabei genau so wenig voyeuristisch in Szene wie die Gesichter seiner Hauptdarstellerinnen in allen Bandbreiten darstellbarer Emotion. Und – auch das ist für einen Film, der sicher nicht auf den lesbischen Underground, sondern auf den Mainstream abzielt – neu: Der Sex sieht sehr, sehr echt aus.
Ein dreistündiger Film, der wirklich fesselt
Beim Filmfestival in Cannes gewann "Blau ist eine warme Farbe" die Goldene Palme (Bild: Alamodefilm)
Wobei Autorin Julie Maroh, auf deren Graphic Novel "Blue Angel" der Film basiert (queer.de berichtete), dies allerdings anders sieht. Ihrer Ansicht nach gleicht das Werk eher einem Porno, der Sex sei nicht authentisch. Wer allerdings jemals das Vergnügen hatte, "authentischen" lesbischen Sex abgefilmt zu sehen, weiß: Das funktioniert im Bett wunderbar – auf der Leinwand überhaupt nicht. Kino ist Überhöhung und hat seine eigene Bildsprache. Natürlich finden sich in "Blau ist eine warme Farbe" auch kleine Stereotypen: In der Gay-Bar knutschen die Jungs genauso wie die Mädels in der Lesben-Kneipe ununterbrochen. Aber wie sonst sollte man in einem Kameraschwenk klar machen, wo die Handlung gerade spielt? Und Sex, bei dem nichts zu sehen und zu hören ist, bietet nun mal keinerlei Unterhaltungswert.
Doch genau davon hat dieser Film eine ganze Menge. Kechiche hat es geschafft, mich drei Stunden zu fesseln und Adèle und Emma durch ein faszinierend gegenwärtiges Lille zu begleiten. Und er hat mir ein paar intensive Momente gegeben, in denen ich mich sehr gut wiedergefunden habe. Der trockene Hals, den ich hatte, als ich wusste dass "es" nun zum ersten Mal passieren wird. Und die Verzweiflung, die mich überkam als…
"Blau ist eine warme Farbe" hat nicht nur die Goldene Palme von Cannes zurecht verdient, sondern jeden Respekt für die grandiose Inszenierung einer lesbischen Geschichte, die wohl die meisten von uns so oder so ähnlich selbst erlebt haben. Dazu zwei hervorragende Schauspielerinnen, die so glaubwürdig agieren, dass sich manchmal das Gefühl einstellt, einen Dokumentarfilm zu sehen. Für mich ist es das Filmhighlight des Jahres 2013 – und ich empfehle, die kommenden Feiertage zum Kinobesuch zu nutzen. Übrigens nicht nur den Lesben, sondern auch den geneigten Schwulen. Denn wer François Ozon und seine Frauen-Inszenierungen schätzt, sollte diesen Film auf keinen Fall verpassen. Von der Möglichkeit, das eigene Lesbenbild mal gründlich zu revidieren, ganz zu schweigen.
Youtube | Offizieller deutscher Trailer
Infos zum Film
Blau ist eine warme Farbe (Originaltitel: La vie d'Adèle). Drama. Frankreich 2013. Regie: Abdellatif Kechiche. Darsteller: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Catherine Salée, Jeremie Laheurte, Aurélien Recoing, Sandor Funtek, Karim Saidi, Baya Rehaz, Aurelie Lemanceau. Laufzeit: 180 Minuten. Sprache: deutsche Synchronfassung. FSK 16. Verleih: Alamode. Bundesweiter Kinostart: 19. Dezember 2013.
Links zum Thema:
» Homepage zum Film
» Fanpage auf Facebook
» Die Graphic Novel auf Amazon
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
Informationen zu Amazon-Affiliate-Links:
Dieser Artikel enthält Links zu amazon. Mit diesen sogenannten Affiliate-Links kannst du queer.de unterstützen: Kommt über einen Klick auf den Link ein Einkauf zustande, erhalten wir eine Provision. Der Kaufpreis erhöht sich dadurch nicht.