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Gender fuckers
In Wodka veritas: Gloria Viagra trifft Captain Kidd
- 07. Januar 2014 5 Min.

Abgefüllt vor Publikum: Captain Kidd vom australischen Burlesque-Circus "Briefs" (li.) mit Talkmasterin Gloria Viagra (Bild: Kevin Clarke)
Die Transen-Talkshow "Thekenschlampe" startete am Montag in die zweite Staffel – diesmal live vor Publikum, aufgezeichnet im Berliner Tipi-Zelt.
Von Kevin Clarke
Natürlich ist das grundsätzlich eine super Idee: ein eigenes TV-Format, das unabhängig von den Beschränkungen des gängigen öffentlich-rechtlichen oder privaten Fernsehens LGBT-Themen via YouTube und Internet an den Mann bringt. Oder an wen auch immer. Journalisten weltweit haben vorgemacht, wie Blogs, Podcasts und dergleichen mehr eine Bereicherung der Medienlandschaft sein können. Viele wunderbare queere Geschichten haben so den Weg zu einer größeren Öffentlichkeit gefunden.
Im Sommer 2013 startete in Deutschland Gloria Viagra – eine "leuchtturmhohe Ikone des Berliner Nachtlebens", wie die "Berliner Zeitung" sie nannte – mit einer Show, die den witzigen Titel "Thekenschlampe" trug. Zusatz: "The Champagne of Talk". In der ersten und zweiten Staffel wurden jeweils acht Sendungen ins Netz gestellt, in denen Gloria Viagra jeweils auf einen anderen Gast trifft und mit diesem bei einer Art Kampftrinken ein temporeiches Wahrheits-Quiz spielt. Nach dem Motto: "In Wodka veritas!" So zumindest das Konzept.
Albernes Blabla statt spannender Gespräche

Professionell war zumindest die Einladung zur ersten Aufzeichnung vor ausgewähltem Publikum (Bild: Kevin Clarke)
Leider war die praktische Umsetzung – vorsichtig formuliert – oft eher dürftig. Viagra lief mit all dem Wodka und Champagner nicht zu künstlerischer Höchstform auf, wie beispielsweise Georgette Dee in vergleichbaren Situationen, sondern ließ die spannenden Gelegenheiten zu noch spannenderen Gesprächen verkommen zu albernem Blabla. Was hier auf queer.de von den Usern auch ausgiebig und kritisch kommentiert wurde. Trotzdem brachte es "Thekenschlampe" bislang auf 300.000 Views, wie die Produktionsfirma mitteilte. Ein beachtlicher Erfolg.
Nach Ablauf der ersten Staffel, an deren Ende – sozusagen als Höhepunkt – ein verkorkstes Interview mit dem anderswo durchaus eloquenten Pornostar Tim Krüger stand (man denke an sein Gespräch im Berliner Modemagazin "Kaltblut"), nahm sich Viagra eine Auszeit. Fürs queere Berliner Magazin "Siegessäule" befragt sie Politiker aller großen Parteien zu ihren Konzepten zur Schwulen- und Lesbenpolitik. Nach Ablauf der zweiten Staffel begann sie das neue Jahr mit einer Premiere: der Aufzeichnung einer "Thekenschlampe"-Show vor Live-Publikum. Und zwar im Tipi-Zelt am Kanzleramt.
Burlesque-Truppe "Briefs": "all male, all vaudeville, all trash"
Die Pressestelle des Tipi war auf das TV-Format aufmerksam geworden und hatte Viagra eingeladen, an der hauseigenen Theke einen der kommenden Showstars des Tipi zu interviewen. Natürlich auch als PR-Maßnahme für den Veranstaltungsort. Auserkoren wurde dafür jemand, mit dem man wirklich über viele wichtige und lohnende Dinge sprechen könnte: Captain Kidd, Chef der australischen Männer-Burlesque-Truppe "Briefs": "all male, all vaudeville, all trash". Kidd und seine sechs Kollegen zeigen im Rahmen ihrer aktuellen Deutschlandtournee "The Second Coming", wie spektakulär "gender fuckers" das Modell vom Striptease à la Dita von Teese mit Akrobatik, Witz und schwulem Sexappeal neu beleben können. "Priscilla" lässt grüßen!
Captain Kidd und sein Lebenspartner Shivannah waren also die Gäste dieser ersten "Thekenschlampe"-Ausgabe 2014. Sie hatten noch den entzückenden "Nerd" Louis Biggs mitgebracht, der als bebrillter Clark Kent in weißen Unterhosen (= "Briefs") zeigte, wie akrobatisch man eine Banane essen kann. Und wie man Nacktheit mit einem selbstgestrickten "Willy Warmer" ("Schwanzwärmer") uminterpretieren kann. Sehenswert!
Aus verschiedenen kurzen Einwürfen wurde klar, dass Captain Kidd und das "Briefs"-Projekt auch im Sinn einer gesellschaftpolitischen Debatte lohnend sind. Denn: Die Jungs aus Brisbane starteten "Briefs" als Club, wo jeder so genderverdreht sein darf wie er will, nachdem sie selbst mehrmals nicht in die Discos ihrer Heimatstadt rein gelassen worden waren, da nicht dem "Standardhomomodell" entsprechend.
Beschämendes Komasaufen auf der Bühne

Captain Kidd mit selbstgestricktem Willy Warmer (Bild: Kevin Clarke)
Doch statt auf diese Art der Diskriminierung innerhalb der schwulen Szene einzugehen oder sonst irgendwie interessante Dinge zu fragen, goss Gloria Viagra leider nur immer wieder Wodka nach und sorgte mit schlechtem Englisch für einen schrillen, aber beschämenden Abend. Der dauerte satte drei Stunden, von denen 15 Minuten den Weg ins Netz finden sollen.
So sympathisch ich Gloria Viagra als schnauzbärtige Bühnenerscheinung finde, so erschreckend ist es zu sehen, wie die Gelegenheit zu einer amüsanten, anderen, anarchischen, auf alle Fälle intelligenten (!) queeren Talkshow verschenkt wurde. Beziehungsweise zu Komasaufen verkam. Captain Kidd antwortete auf die Frage, was eigentlich nötig sei, um bei seiner Burlesque-Truppe mitzumachen: "Kompetenz und Professionalität!" Er schaute dabei Viagra mit einem süffisanten Lächeln an, die – ironischerweise – diese englische Antwort nicht verstand und längere Zeit mit der Übersetzung beschäftigt war.
Die geschnittene und edierte Sendung wird voraussichtlich kurz vor dem Berlin-Gastspiel der Australier vom 8. bis 28. März ausgestrahlt; auf der Website von "Thekenschlampe" kann man zwei Freikarten gewinnen. Bis dahin sind die Burlesquers von "Down Under" in Hamburg in den Fliegenden Bauten bis zum 11. Januar zu bestaunen. Selbst die improvisierten Ausschnitte aus ihrer Show im Rahmen von "Thekenschlampe" machten klar, wieso sie so viele internationale Preise gewonnen haben.
Gloria Viagra bleibt zu wünschen, ihr irgendwie von Moritz Uslar inspiriertes "100 Fragen an…"-Konzept besser vorzubereiten. Wenn man so Interviews führen will, muss das knackig und zackig gehen. Was vermutlich besser funktioniert, wenn man nüchtern ist. Denn nur weil man selbst high und blau ist, muss das Publikum beim Zuschauen dieses Zustands noch lange keinen Spaß haben.
Ansonsten wäre Viagra dringend zu empfehlen, die Gesprächspartner auch mal zu Wort kommen zu lassen und sie nicht nur lautstark abzufüllen. Oder bedeutet Queersein heute, dass das Leben nur aus Hochprozentigem, Drogen und Trance besteht – "und sonst gar nichts"? Das wäre schade. Die "Briefs"-Jungs als ebenfalls bärtige Transen zeigen eindrücklich, dass es auch anders geht!
Links zum Thema:
» Homepage von Thekenschlampe TV
» Briefs-Homepage
» Briefs im Tipi am Kanzleramt
» Briefs in Hamburgs Fliegenden Bauten
Mehr zum Thema:
» Gloria Viagra interviewt Tim Kruger (06.08.2013)














