Szene aus Xavier Dolans Film "Laurence Anyways": Laurence entscheidet sich, als Frau zu leben, und möchte dennoch bei seiner Freundin bleiben (Bild: NFP marketing & distribution)
Der preisgekrönte Liebesfilm "Laurence Anyways" ist jetzt auf DVD erschienen. Im Interview spricht Regisseur, Autor und Schauspieler Xavier Dolan über sein fast dreistündiges Meisterwerk.
Von Kurt Reller
"Alia" ist lateinisch und heißt "eine andere". Dass der Protagonist in Xavier Dolans Film "Laurence Anyways" den androgynen Namen Laurence Alia trägt, erscheint nur konsequent. Denn mit Anfang Dreißig stellt dieser fest, dass er im falschen Körper lebt – er möchte eine Frau werden, er ist "eine andere". Dafür riskiert der Lehrer und Schriftsteller sogar seine große Liebe, Fred Belair.
Beginnend in den späten 1980er-Jahren, verfolgt das Drama über ein Jahrzehnt hinweg den Kampf um ihre Beziehung und Laurence' zunehmende Verwandlung in eine Frau. Dabei wechseln sich hochgradig artifizielle, surreale Bilder mit beinahe dokumentarischen ab, bei denen die Kamera ganz nah dran an den Figuren ist. Sie ist dabei, als Laurence zum ersten Mal Make-up aufträgt, als er zum ersten Mal in Frauenkleidung vor seiner Klasse steht und als seine Mutter ihm die Unterstützung verweigert. Sie ist dabei, als sich Laurence und Fred trennen.
Als der Frankokanadier Xavier Dolan 2009 im Alter von 19 Jahren sein Debüt "I Killed My Mother" bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes vorstellte, wurde er als Regie-Wunderkind gefeiert. Im Jahr darauf folgte "Heartbeats". Sein dritter Film "Laurence Anyways" ist Ende Januar 2014 auf DVD und Blu-ray erschienen. Im Interview spricht der Regisseur, Autor und Schauspieler, der zur Zeit in den Dreharbeiten zu seinem fünften Film "Mommy" steckt, über sein episches, fast drei Stunden umfassendes Meisterwerk, dessen opulenter Soundtrack und lyrische Bilder jede einzelne Szene zu einem Kunstwerk machen.
Offen schwules Regie-Wunderkind: Der Frankokanadier Xavier Dolan, Jahrgang 1989, arbeitet derzeit an seinem sechsten Film
"Laurence Anyways" ist dein dritter Film, der sich mit den Belangen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender auseinander setzt. Siehst du dich als einen queeren Künstler oder dein Werk als einen Beitrag zum queeren Kino?
Ich arbeite nicht für die Community. "Fights for Rights Movies" sind edel und notwendig, aber schon "I Killed My Mother" ist in erster Linie die Geschichte eines Sohnes und seiner Mutter. Seine Homosexualität ist nur Beiwerk und dient als ein Wendepunkt im Gesamtplot. Ähnlich ist es in "Heartbeats", wo zwei Freunde eher in die Liebe verliebt sind als in einen anderen Menschen und in ihrem Eroberungsstreben miteinander konkurrieren. In "Laurence Anyways" versuchen zwei Liebende gegen die soziale Ausgrenzung anzukämpfen, vor allem jedoch versuchen sie, in ihrer Beziehung authentisch zu sein. Diese Geschichten existieren jenseits von LGBT-Belangen, diese sind eher Nebenstränge oder, um mit Hitchcock zu sprechen, MacGuffins. Mir ist natürlich klar, dass wahrer Fortschritt darin besteht, bestimmte Dinge selbstverständlich zu integrieren, anstatt nur zu behaupten. Aber für mich gibt es kein Hetero-Kino und auch keinen jüdischen Film. Wenn du eine gute Geschichte hast und gute Schauspieler dazu, dann hast du einen Film. Punkt.
Von vielen Kritikern wird "Laurence Anyways" als dein bisher reifstes Werk gelobt. Darüber hinaus ist es dein erster Film jenseits von Coming-of-Age-Themen: Die Hauptfigur Laurence ist ein Mann in den Dreißigern, der eine Frau werden möchte. Warum hast du das Thema gewechselt?
Für mich persönlich sind all meine Filme Teil einer unbewussten Trilogie über unerwiderte Liebe, auch wenn sie thematisch sehr weit auseinander liegen. Ich habe nie das Thema gewechselt, sondern immer versucht, Geschichten zu erzählen, während ich mich weiterentwickelte. Daher werden auch meine Figuren mit jedem Film älter.
Laurence, der Literatur unterrichtet, wird vom Schuldienst suspendiert, als er sich wie eine Frau zu kleiden beginnt. Seine Schüler kommen dagegen sehr gut mit seiner eigentlichen Identität klar. Glaubst du, dass Akzeptanz eine Generationsfrage ist?
Jede Generation hat ihre Eltern, die sie beeinflussen und ihnen Werte beibringen, die wiederum ihre Eltern ihnen mitgegeben haben. Ich glaube, dass Akzeptanz eine Frage von Charakter, Denkart und Individualität ist. Es hat immer Menschen gegeben, die hassen, nur stehen diese heute meist außen vor, weil sich die Menschheit weiterentwickelt hat. Genauso hat es immer aufgeschlossene Menschen gegeben, die Geschichte geschrieben, Dinge vorangetrieben und ihre modernen Ansichten verbreitet haben.
Dorans dritter Film "Laurence Anyways" ist am 23. Januar 2014 auf DVD und Blu-ray erschienen
Im Film laufen zwei Stränge parallel: Die Verwandlung von Laurence zur Frau und seine Reifung als Dichter. Inwiefern bedingt das eine das andere?
Der Kampf, eine Frau zu werden, dominiert das Leben von Laurence total. Während sich alles Männliche auflöst, macht sich Laurence auch von aller banalen Geschäftigkeit frei, Liebe und Karriere eingeschlossen. Beides wird absolut nichtig. Auf diese Weise wollte ich zeigen, wie alles um Laurence stagniert, während er seinen mutigen Weg geht. Was sein Schreiben angeht, so betreibt er das eher nebenbei. Vielleicht könnte er ein exzentrischer Dichter werden, wer weiß?
Obwohl Laurence' langjährige Freundin Fred heterosexuell ist, versucht sie, eine Beziehung mit ihr zu führen. Diese funktioniert jedoch nicht, am Ende trennen sich die beiden. Trotz ihrer ungebrochenen Gefühle für Laurence kann Fred ihre sexuelle Neigung letztlich nicht überwinden…
Wir sollten das individuell betrachten. So wie Menschen nicht durch ihre Zugehörigkeit zu einer Generation definiert werden können, können sie es auch nicht durch die zu einer bestimmten Gruppe. Sexualität ist etwas Persönliches, manche Menschen können ihre sexuellen Hemmungen überwinden, andere eben nicht.
Wie schon in deinen vorangegangenen Filmen ist die Verbindung von Musik und Bild sehr beeindruckend. Mit Fever Ray gelingt dir eine düstere Eröffnungssequenz, New-Wave-Klassiker wie "Fade To Grey" wirken in Kombination mit Prokofiev, Brahms und Beethoven melancholisch und hoch dramatisch. Inspiriert dich ein Song zu einem bestimmten Bild oder ist es umgekehrt?
Es ist tatsächlich die Musik, die mich zu einem Bild oder darüber hinaus zu einem Film inspiriert. Natürlich gibt es eine Geschichte, aber sie erhält ihre Form und Bedeutung durch die Lieder, die ich höre. Diese rufen nach und nach Bilder, Ideen und Dialoge in mir hervor. Ich rede mit Freunden immer zuerst über einen Trailer und die Lieder, zu denen ich ihn schneide, bevor ich überhaupt das Drehbuch schreibe. Das ist absurd, ich weiß. Aber für mich beginnt alles mit der Musik und endet mit ihr, wenn ich den Film im Schneideraum bearbeite und ihm seine finale Tonart gebe. Dieser Soundtrack kann weit weg von dem sein, was ich ursprünglich wollte, aber meist ist er genau das, was ich im Kopf hatte.
Neben der essentiellen Musik gibt es viele ikonische, lyrische Bilder in "Laurence Anyways". In einer Szene fliegt ein Schmetterling aus Laurence' Mund.
Ich brauche diese Bilder. Sie haben einen Zweck, einen logischen Ort. Auf manche mögen sie sinnlos oder überflüssig wirken, aber ich mag diese Momente. Sie illustrieren die tiefen Gefühle der Figuren und ihr Verlangen, der Gegenwart mithilfe der Fantasie zu entfliehen. Das Kino bildet nicht die Realität ab, sondern interpretiert sie. Filme sind eine Absage an das reale Leben, eine Möglichkeit, das Unwirkliche, das Traumartige, die Magie des Lebens zu erfassen. Das klingt kitschig, ist aber Ausdruck meiner Haltung.
Das Motiv der unerwiderten Liebe ist in deinen Filmen von zentraler Bedeutung, so wie es in Film und Literatur generell sehr wichtig ist. Weshalb kommst du immer wieder auf dieses Motiv zurück?
Ich glaube, weil ich jung bin, möchte ich über das sprechen, was ich weiß, was ich selbst erfahren habe. Ich verliere mich nicht in fiktionalen Stoffen. Indem ich mich an das halte, was ich weiß, kann ich die Kontrolle behalten.
Du hast mal gesagt, dass "Titanic" einer deiner Lieblingsfilme sei. Kannst du dir vorstellen, mal eine glamouröses Hollywood-Melodram oder sogar einen Blockbuster zu drehen?
Natürlich! Genau das werde ich als nächstes in Angriff nehmen. Ich arbeite derzeit an meinem sechsten Film "The Death and Life of John F. Donovan" – meinem ersten amerikanischen Drehbuch, das ich mit Jacob Tierney, einem kanadischen Regisseur, Autor und guten Freund, geschrieben habe.
Youtube | Offizieller deutscher Trailer zu "Laurence Anyways"
Infos zur DVD
Laurence Anyways. Drama. Kanada/Frankreich 2012. Regie: Xavier Dolan. Darsteller: Melvil Poupaud, Suzanne Clément, Nathalie Baye, Monia Chokri. Laufzeit: 157 Minuten. Sprachen: deutsche Synchronfassung, französische Originalfassung. Untertitel: Deutsch (optional). FSK 12. Eurovideo Medien