Schwule Männer, die in der Bundesrepublik nach dem Paragrafen 175 verurteilt wurden, warten bis heute auf Gerechtigkeit (Bild: dierkschaefer / flickr / by 2.0)
Am 10. März 1994 hat der Deutsche Bundestag die vollständige Streichung des "Schwulenparagrafen" beschlossen. Nicht unbedingt aus Überzeugung – der Anschluss der DDR ließ keine andere Wahl.
Uganda, Indien, Iran – die Liste der Länder, die einvernehmlichen Sex zwischen Menschen des gleichen Geschlechts bestrafen, ist lang. Bis vor 20 Jahren gehörte auch die Bundesrepublik Deutschland dazu.
Der Paragraf 175 des Strafgesetzgebuchs (StGB) hatte von 1871 bis 1994 in verschiedenen Fassungen Gültigkeit. Er wurde mit der Gründung des Deutschen Reiches eingeführt. Die erste Fassung besagte: "Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden." Bis dahin waren in mehreren Teilen Deutschlands – etwa in Bayern – die Homo-Verbote dank französischen Einflusses weggefallen. Das wurde durch die Vereinigung wieder rückgängig gemacht.
Im Kaiserreich wurden knapp 10.000 Menschen aufgrund dieses Paragrafen verurteilt, davon nur eine kleine Minderheit wegen Sodomie. Obwohl er in der Weimarer Republik weiter Bestand hatte und es auch zu mehreren tausend Verurteilungen kam, blühte das schwule Leben gerade in Berlin auf. Mehrere Versuche liberaler und linker Parteien, den Paragrafen abzuschaffen, scheiterten jedoch im Parlament. Mit der Machtübernahme der Nazis wurde Homosexualität lebensgefährlich: 1935 verschärfte die NSDAP den Paragrafen. Nun drohten zehn Jahre Zuchthaus. 1939 urteilte das Reichsgericht zudem, dass "Unzucht" auch vorliege, wenn "keine körperliche Berührung des anderen stattgefunden hat." Schätzungsweise 100.000 Männer wurden im Dritten Reich nach dem Paragraf 175 verurteilt. Viele Schwule wurden zudem kastriert und etwa 15.000 in Konzentrationslager geschickt.
Die Nazi-Fassung des § 175 galt in der Bundesrepublik weiter
Die ersatzlose Streichung des Paragrafen 175 war bis vor zwanzig Jahren das wichtigste Ziel der bundesdeutschen Schwulenbewegung
Nach der Befreiung galt in der Bundesrepublik bis 1969 die verschärfte Nazi-Fassung des Paragrafen. Es kam zu insgesamt 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen allein in Westdeutschland. Die Große Koalition hob schließlich das Total-Verbot auf, es galten allerdings immer noch unterschiedliche Altersgrenzen für (männliche) Homosexuelle und Heterosexuelle. Für Schwule lagen diese bei 21 Jahren bzw. 18 Jahren (ab 1973); für Heteros waren es 16 Jahre. In der DDR galt das Homo-Verbot bis 1968 in der Vornazi-Fassung. Auch dort waren die Schutzaltersgrenzen nach Paragraf 151 StGB-DDR bis 1989 unterschiedlich. Schließlich hob die Volkskammer kurz vor dem Mauerfall das Gesetz komplett auf.
Im Rahmen der Rechtsanpassung der beiden deutschen Staaten musste die damalige schwarze-gelbe Bundesregierung eine Entscheidung treffen. Kanzler Helmut Kohl entschied sich pragmatisch für das fortschrittliche DDR-Recht: Am 10. März 1994 verlor der Paragraf 175 auch im Westen seine Gültigkeit. Im selben Jahr kam es aber noch zu 44 Verurteilungen.
Eine Rehabilitierung der Männer, die nach 1945 aufgrund des Paragrafen 175 verurteilt wurden, steht bis heute aus. Sie gelten weiterhin als Straftäter. Die frühere schwarz-gelbe Bundesregierung lehnte eine Aufhebung der Urteile aus verfassungsrechtlichen Bedenken ab, da rechtstaatlich zustande gekommene Entscheidungen nicht willkürlich im Nachhinein geändert werden dürften (queer.de berichtete).
Mehrere Bundesländer drängen jedoch weiterhin auf eine Rehabilitierung. Erst im vergangenen Monat startete in Rheinland-Pfalz ein umfangreiches Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Menschen (queer.de berichtete). Nach dem Vorbild von Hamburg beschloss zudem der hessische Landtag im vergangenen Jahr, eine Ausstellung mit begleitender Dokumentation über die Verfolgungssituation durch die hessische Justiz zu erstellen (queer.de berichtete). Parallel sucht die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld für ihr Zeitzeugenprojekt "Archiv der anderen Erinnerungen" Opfer des Paragrafen 175, die bereit sind, in Videointerviews von dem geschehenen Unrecht zu erzählen. (cw)
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"Bis dahin waren in mehreren Teilen Deutschlands etwa in Bayern die Homo-Verbote dank französischen Einflusses weggefallen. Das wurde durch die Vereinigung [in Versailles] wieder rückgängig gemacht.
Heute werden in Versailles Homo-Ehen geschlossen.
Und in Berlin?
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