Der Seattle Men's Chorus hat 250 Mitglieder. Rund 100 sind bei der Deutschland-Tour dabei
Der Seattle Men's Chorus präsentiert u.a. eine Oper über den Rosa-Winkel-Häftling Gad Beck und ein Stück über den Selbstmord eines gemobbten schwulen Schülers.
Von Kevin Clarke
Mitten im momentanen CSD-Betrieb zwischen Berlin, Köln und anderswo ist der Seattle Men's Chorus unterwegs, der größte schwule Chor der Welt. Der hat zwar das Wort "Gay" aus seinem Namen gestrichen, sein Kernrepertoire ist aber dennoch "schwul" im weitesten Sinn. Der Chor tourt diese Woche mit einem Programm durch Deutschland, das zum einen "Inspirational Songs" bietet, wie zum Beispiel "Worthy" (siehe Video unten), wo die Botschaft "It's Okay to be Gay" auf angenehm pathetische, zugleich aber auch leise-überzeugende Weise vermittelt wird.
Zum anderen gibt's im ersten Teil der Konzerte die berührende Oper "For a Look or a Touch" (2011) zu hören. Es ist ein einaktiges Stück von Komponist Jake Heggie über den Holocaust-Überlebenden Gad Beck (1923-2012), der als alter Mann von der Vision seines früheren Liebhabers Manfred heimgesucht wird, den er im KZ zurücklassen musste, ohne sich richtig verabschieden zu können. In Deutschland wurde sie bislang nur an der Kammeroper in Gießen aufgeführt (queer.de berichtete).
Ein schwuler Jude überlebt das KZ
Am Samstag marschierte der Seattle Men's Chorus als eigener Block bei der Demo des Berliner CSD e.V. mit (Bild: Dominik Dierich)
Der schwule Jude Gad sinniert darüber, wie es ihm nach 1945 in der Bundesrepublik ergangen ist, nach der Entlassung aus dem KZ, wie im Nachkriegsdeutschland mit Rosa-Winkel-Häftlingen umgegangen wurde, wie seine Familie sich weigerte, über seine Homosexualität und die KZ-Zeit zu sprechen, wie er den Schock des Verlusts eines Liebhabers nie jemandem erzählen und verarbeiten konnte.
Auch in dieser absolut tonalen, tief sonoren Oper von Heggie (dem Komponisten der US-Erfolgswerke "Moby Dick" und "Dead Man Walking") gibt es "Inspirational"-Passagen, bei denen der gesamte Chor in Häftlingsuniform mit Rosa Winkel auf der Bühne steht. Es sind Passagen, die mit ihrem insistierenden Gesang gewaltig unter die Haut gehen, besonders wenn Solist Morgan Smith als Manfred sein Lamento über verlorene Liebe und verlorene Zeit darüber setzt. Was Mr. Smith mit kernigen Baritontönen tut, die Überwältigungspotenzial haben. Unterstützt werden Chor und Solisten hier wie anderswo von einem kleinen Orchester unter Leitung von Dennis Coleman.
Der Seattle Men's Chorus tritt in Deutschland in halbierter Form auf, weil nicht alle 250 Mitglieder Urlaub nehmen und auch nicht alle die Kosten einer Tournee selbst schultern konnten. Aber auch mit zirka 100 Mann Stärke sind die Klänge eindrucksvoll. Besonders, weil auch die Stücke, die vorgetragen werden, eindrucksvoll sind. Amerikaner haben einen anderen Bezug zu "Pathos" und gehen damit anders um als Deutsche. Das kann manchmal aufgesetzt wirken, manchmal aber auch überlebensgroß-überwältigend. Letzteres ist hier der Fall.
"Tyler Suite" erinnert an den Selbstmord eines schwulen Schülers
Neben der eher allgemeinen Botschaft von "Worthy" hat mich besonders eine Nummer aus der "Tyler Suite" beeindruckt. Aus dieser Suite, an der mehrere Komponisten mitgeschrieben haben, um an den Tod des Schülers Tyler Clementi zu erinnern, der wegen homophober Attacken 2010 von der George Washington Brücke in den Tod sprang, hört man "The Narrow Bridge" von Jake Heggie. Der junge schwarze Tenor aus dem Chor, Adam Parnell, übernimmt hier das Solo und bietet eine schlichtweg erschütternde Interpretation der letzten Sekunden des Lebens von Clementi. Parnell singt nicht mit perfekter Opernstimme, sondern mit einer unverbildeten Naturstimme, was die emotionale Direktheit seines Vortrags stark erhöht, ohne je in typisch deutsches Musical-Geplärre zu verfallen.
Und dann ist da noch – für mich ein Höhepunkt des Konzerts – ein Ausschnitt aus "I Am Harvey Milk" von Andrew Lippa. Da singt der junge blonde Logan Skirm Passagen aus Harvey-Milk-Reden ("Tired of Silence") zu Chor-Begleitung. Er tut dies raumfüllend, verzweifelt, anklagend, mitreißend. Und ebenfalls ohne Opernstimme, sondern mit der rauen Unmittelbarkeit eines Naturereignisses.
Es geht in diesem Konzert allerdings nicht nur anklagend und erschütternd zu, sondern die Männer aus Seattle gönnen sich auch einige Entspannungsmomente. Zu denen gehört neben der "Mood Indigo" von Duke Ellington und der witzigen Nummer "Little Jazz Bird" von Gershwin das Lied "Happy" – wo einige Herren eine höchst amüsante Choreographie vorführen, die zeigt, dass diese Kerle von der Westküste nicht nur singen können.
Youtube | Mutmach-Song: Der Seattle Men's Chorus singt "I Am Worthy"
Letzte Stationen sind Dresden (Mittwoch) und Krefeld (Freitag)
Bariton Morgan Smith war früher an der Leipziger Oper engagiert
In Berlin trat der Seatlle Men's Chorus bei der Stonewall Gala am Freitag auf, bei der Abschlussveranstaltung des CSD auf der Bühne vorm CDU-Gebäude und mit dem kompletten Konzert am Sonntagabend im Admiralspalast. Die Schirmherrschaft dieser Veranstaltung hatte Barrie Kosky übernommen, zu dessen künstlerischem Credo die Verbindung von "Proud to Be Gay", Judentum/Holocaust und bedingungslosem Bekenntnis zum Showbusiness perfekt passt. Eigentlich war es schade, dass der Chor mit dieser Opernerstaufführung und dem Chorkonzert nicht gleich in der Komischen Oper aufgetreten ist. Da hätte das Programm – auch was das Publikum des Hauses angeht – ideal hingepasst. Vielleicht das nächste Mal?
Am Montag reiste der Chor weiter nach Leipzig, wo Bariton Morgan Smith früher an der Oper engagiert war. Noch erleben kann man den Chor am Mittwoch in Dresden, wo er in der St. Pauli Ruine singen wird – in einem eher den Holocaust betonenden Ambiente. Am Freitag folgt ein Auftritt in Krefeld in der Friedenskirche, wohin auch Kölner Schwule eingeladen sind.
Der Besuch der Konzerte lohnt. Zum einen, weil man die Musik von Jake Heggie in Deutschland viel zu selten an Opernhäusern zu hören bekommt und "For a Look or a Touch" eine wunderbare Miniaturoper ist. Zum anderen hat das ruhige Pathos, mit dem der Chor die politischen Stücke des zweiten Teils vorträgt, etwas eindrucksvoll "Amerikanisches". Etwas, das den meisten deutschen LGBT-Aktivisten in dieser Form völlig fehlt. Insofern ist es rundum inspirierend, die Kerle aus Seattle zu sehen und zu hören – besonders wenn sie am Schluss noch "Over the Rainbow" singen.
Diese Schwulenhymne einer Generation vor Stonewall entfaltet selbst heute noch, generationsübergreifend, ihren Zauber, auch wenn sie in Deutschland nicht den Kultstatus hat, wie in den USA. Macht nichts. Denn: Wenn man in die leuchtenden Gesichter der 100 Herren da oben auf der Bühne schaut, weiß man, dass diese Musik ihnen etwas bedeutet, und dass sie ihre Bedeutung teilen wollen. Das gelingt ihnen hervorragend!
Youtube | Der Seattle Men's Chorus 2008 beim Seattle Pride
Für Freunde der leichten Muse hier noch ein Männerchor der besonderen Art mit Rufus Wainwright, Boy George, David Byrne, Josh Groban, Ezra Koenig, Steven Page, Brent Carver und dem wunderbaren Countertenor Brennan Hall beim Finale von IF I Loved You: Gentlemen Prefer Broadway während des Luminato Festivals in Toronto vor einer Woche:
mit Summer Nights aus Grease:
www.youtube.com/watch?v=zPb05ge6hW0