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Kult-Musical
Zum Verlieben: Cheyenne Jackson in "West Side Story"
- 11. Juli 2014 6 Min.

Schwulenbewegter Sänger und Schauspieler mit indianischen Wurzeln: Cheyenne Jackson bei den Aufnahmen zu "West Side Story" (Bild: Art Streiber)
Ein rein schwules Team hat einst "West Side Story" geschaffen, jetzt sind es wiederum schwule Broadway-Babys, die das Stück überwältigend gut auf CD herausgebracht haben. Mit Cheyenne Jackson in der Hauptrolle.
Von Kevin Clarke
Es passiert nicht oft, dass mir eine CD den Atem verschlägt. Aber die neue Gesamtaufnahme von "West Side Story" aus San Francisco ist so ein Fall. Der Hauptgrund dafür ist die Besetzung des Tony mit Broadway-Star, US-Fernsehheld und Klatschspalten-Celebrity Cheyenne Jackson. (Wir erinnern uns: "Glee", Scheidung von Langzeitpartner, übereilte neue Verlobung, Drogen, Nacktaufnahmen im Internet etc.)
Jackson liefert auf dem Album eine Performance mit so viel Charisma, Star Quality und Stimmglanz, dass ich mehrmals weiche Knie bekam. Und das, obwohl ich Jackson bislang zwar immer auf der Bühne geil fand – in "Xanadu" (diese Shorts und Oberschenkel!), "Finian's Rainbow" oder 2014 in Frank Loessers "The Most Happy Fella" bei der Encores-Serie in New York – aber seine rein akustische Leistung auf CD, ohne optischen Zusatz, meist nur mäßig aufregend war.
Offensichtlich liegt ihm der Tony in "West Side Story" mehr, oder er hat sich für diese Aufnahme mal so richtig ins Zeug gelegt? Jedenfalls ist es diesmal auch ein Hörerlebnis, ihm als verliebten jungen Mann zu lauschen mit Hits wie "Maria", "Something's Coming" und "Tonight".
Gibt's nicht schon genügend gute "West Side Story"-Aufnahmen?

Das Album ist im Juni bei SFS Media erschienen – dem eigenen Label des San Francisco Symphony Orchestra
Natürlich wird jeder sofort sagen: Gibt's nicht schon genügend gute "West Side Story"-Aufnahmen? Ja, gibt es. Da ist der superlative Original-Broadway-Cast mit dem (schwulen) Larry Kert als Tony und der unvergleichlichen Chita Rivera als Anita. Dann gab's den superben Soundtrack zum Natalie-Wood-Film. Und ehrlich gesagt würde das für alle Zeiten reichen.
Außerdem hat Leonard Bernstein ja bekanntlich selbst noch eine Aufnahme gemacht, mit Opernstars wie Kiri te Kanawa, José Carreras und Tatiana Troyanos. Auch wenn hier jede Rolle gründlich fehlbesetzt ist – weil absolut unglaubwürdig -, gelingen einige Passagen so berauschend schön, dass ich die Aufnahme nicht missen möchte. Broadway-Fanatiker werden mich für diese Aussagen steinigen, aber als Kiri-Fan muss ich sagen: Ihre schwebenden Höhen am Ende von "Tonight" und "One Hand, One Heart" sind sensationell. Ergreifend. Berührend. Außerdem ist Bernsteins Dirigat explosiv und mitreißend und einfach sehr besonders.
Daneben gibt's etliche andere Alben, die man besser schneller wieder vergisst als man sie aufzählen kann. Erinnert sei an deutsche Scheußlichkeiten mit Ingeborg Hallstein als Maria, im Partykeller-Arrangement (gibt's u.a. bei iTunes). Man muss das anhören, um zu glauben, dass es sowas überhaupt gibt. Und dass es in den 1960er Jahren jemand in Deutschland gut fand.
Die neue Version mit dem San Francisco Symphony Orchestra unter Leitung des ehemaligen Bernstein-Intimus Michael Tilson Thomas (MTT) hat einen ganz eigenen orchestralen Flair, der die Aufmerksamkeit des Hörers sofort packt und der Doppel-CD einen Platz in der Hall-of-Fame-Kategorie sichert. Bei MTT klingt das Schlagwerk prominenter im Vordergrund als in jeder anderen Aufnahme, die ich kenne. Auch die Blechbläser sind extrem präsent. Das hat den Vorteil, dass vieles "eruptiver" wirkt als beispielsweise bei Bernstein selbst, der sich für einen "integrierten" Sound entschied. Beides ist legitim, und beides hat seinen jeweils anderen Reiz. Es ist also schön, dass MTT nicht irgendeinen Bernstein- oder Broadway-Abklatsch liefert, sondern eine eigene überzeugende Interpretation.
Eine echte Alternative zu den Klassikern

Überzeugender Cast: Cheyenne Jackson als Tony und Alexandra Silber als Maria brillieren in einer der größten Liebesgeschichten aller Zeiten (Bild: Art Streiber)
Was die Neuaufnahme aus San Francisco aber wirklich zu einer echten Alternative zu den erwähnten Klassikern macht, ist die Besetzung aller Rollen mit jugendlichen Stimmen, die niemals opernhaft-aufgesetzt wirken, wie bei Bernstein/Deutsche Grammophon, sondern immer authentisch als Teenager auf den Straßen von Manhattan.
Sopran Alexandra Silber hat eine schlanke, elegante Stimme und verfügt über genügend Persönlichkeit, um das abgenudelte "I Feel Pretty" zu etwas Auffallendem zu machen. Manchmal klingt sie – Zufall? – wie Kiri te Kanawa in der Mittellage, hat aber nicht die Sahneschnitten-Spitzentöne. Als junge Frau im Rausch der ersten Liebe ist sie dafür überzeugender als die stimmlich reife Kiri. Am Schluss des Verlobungsduetts "One Hand, One Heart" dachte ich kurz mal, sie sei eigentlich ein Knabensopran – so "gerade" singt Alexandra Silber die Töne.
Was im Kontext eines "Queer Reading" von "West Side Story" spannend ist, denn natürlich kann man Tony und Maria auch als "schwules" Paar umdenken, dessen Liebe gesellschaftlich verboten ist. Schließlich geht's in dem Stück um ein leidenschaftliches Plädoyer für Akzeptanz von allen Außenseitern und ums Überwinden von sozialen Grenzen.
Der Rest der Truppe singt mit Gusto
An der Seite von Silber hört man Jessica Vosk als Anita. Sie ist nicht so überrumpelnd wie Chita Rivera. (Okay, wer ist das schon?) Aber die liefert eine ansprechende und detailgenaue Interpretation von "I Like To Be In America" ab. Der Rest der Truppe – also die Gangs – singt mit Gusto. Wer immer hier der Casting Director war, sollte für einen Grammy nominiert werden.
Mancher wird einwenden, dass einige der Sänger – im Vergleich zu berühmten Vorbildern – etwas anonym wirken. Vermutlich ist das aber Konzept, denn die Geschichte von den Gangs und von Tony/Maria ist ja deshalb so wirkungsvoll, weil sie eine Jedermann-Story schildert, in der sich jeder wiederfinden kann. Und in all der modernen Anonymität taucht dann immer wieder Cheyenne Jackson auf, der alles andere als anonym ist. Er erlaubt sich viele kleine vokale Freiheiten, die seiner Interpretation den Stempel des Individuellen aufdrücken. Schon nach den ersten Takten von "Something's Coming" weiß man, dass da in der Tat Großes aus seinem Mund kommen wird.
Jackson hat keine Probleme mit den hohen Tönen (an denen sich José Carreras damals so abmühte). Und er spielt die fast vollständig aufgenommenen Dialogpassagen absolut überzeugend. Nur die Bernstein-Kinder selbst, die auf der Deutsche-Grammophon-Aufnahme die Dialoge sprechen, klingen intimer. Aber sie fallen völlig aus dem Rahmen, weil man immer weiß, dass sie nicht die eigentlichen Darsteller sind, die gleich singen. Hier passt endlich alles zusammen. Und Cheyenne Jackson ist ein wunderbarer Verführer, der um seine erotische Ausstrahlung weiß, aber dennoch naiv genug als Tony rüberkommt!
Homos als die besseren Heteros
Ich hoffe, dass die Plattenindustrie Cheyenne Jackson fortan regelmäßig für solche CD-Projekte von Broadway-Shows einsetzen wird. Verglichen mit den teils "toten" Konzertmitschnitten von Musicals und Operetten aus Köln und München (oft bei cpo veröffentlicht), ist Jackson eine echte Stimmungskanone vorm Mikrophon. An dem sich Sänger dieses Fachs in Deutschland ein Vorbild nehmen könnten. Er verfällt, glücklicherweise, auch nie in das deutsche Musical-Geplärre, das ich oft extrem störend finde, das aber Stage Entertainment scheinbar fordert bzw. fördert.
Hier hört man ein amerikanisches Team mit einem ur-amerikanischen Stück in einer der größten Liebesgeschichten aller Zeiten. Dass ausgerechnet eine fast rein schwule Mannschaft (von Dirigent über Star und Komponist bis zu Librettist und ursprünglichem Choreographen) diese Hetero-Lovestory so restlos überzeugend hinbekommt, ist toll. Vielleicht sind im Zweifelsfall Homos doch die besseren Heteros – zumindest im Show Business?
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