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- 28. Juli 2014 5 Min.
Die Zeitung unterstellt dem schwulen SPD-Politiker Johannes Kahrs einen regen Pornokonsum. Eine reine Peinlichkeit oder Zeichen einer Hysterie?

Es ist ein Artikel, bei dem nur die Sprache etwas milder ist als bei kreuz.net früher. Der "Tagesspiegel"-Politik-Redakteur Matthias Meisner unterstellt heute dem Hamburger Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs einen Pornokonsum an Rande der Legalität.
Grund: Der SPD-Politiker, der auch Ansprechpartner für LGBT-Fragen seiner Partei ist, hatte unter den fast 1.400 Twitter-Kanälen, die er verfolgt, auch welche mit pornografischem Inhalt. Unter den verfolgten Accounts sind hauptsächlich Politiker aller Richtungen, auch viele Medien – und etwa einige Pornostars.
"Über den Kurznachrichtendienst hat er sich auch mit pornografischen Inhalten bespielen lassen", fasst der "Tagesspiegel" seine Anschuldigung etwas unmodern umwunden zusammen.
Nun ist der Konsum von Pornografie durchaus noch legal in Deutschland, und jemandem auf Twitter zu folgen, heißt noch lange nicht, jeden Beitrag oder überhaupt einen aus dem Kanal zu sehen. Der "Tagesspiegel" sieht das anders: "Von den meisten Accounts werden die Bilder in rascher Taktfolge versandt – Kahrs als Nutzer muss also gemerkt haben, was da so alles als 'Kurznachricht' bei ihm ankommt", unterstellt er und beschreibt als nächstes, womit Kahrs sich folglich "bespielen" lässt:
Sex und Pornografie. Homosexuelle verbreiten in diesen Accounts, denen sich Kahrs als Follower anschloss, Fotos von nackten Männern, von hinten und von vorn, beim Sex, teils in Gruppenaufstellung. Die anzüglichen Bilder sind garniert mit Hinweisen auf "heiße Ärsche" oder "stramme Jungs". Verbreitet werden auch Bilder von erigierten Penissen.
Was für eine peinliche und lustfeindliche Geschichte, lieber "Tagesspiegel". "Anzügliche Bilder"? Sind wir zurück in die Adenauer-Zeit gefallen? Man muss wohl auch Homophobie oder zumindest das Spiel mit einem homophobe Unterton unterstellen: "Homosexuelle verbreiten" Pornos? Heteros etwa gar nicht? Sind "heiße Ärsche" schlimmer als "heiße Titten"?
Aber damit nicht genug, es wird noch so richtig fies und boshaft:
Die abgebildeten Personen sind fast alle Jahrzehnte jünger als Kahrs. Ob sie bereits volljährig sind, lässt sich nicht immer mit Sicherheit sagen.
Es ist keine wirkliche Nachricht, dass das Alter von Porno-Darstellern und -Konsumenten häufig weit auseinanderfällt, im Homo- wie im Heterobereich. Das Blatt setzt Kahrs damit aber in Zusammenhang mit Kinderpornografie, in Zusammenhang mit einigen echten oder vermeintlichen Skandalen der letzten Monate, und das sicher auch in Erinnerung an die letztjährige – ebenfalls heftigst homophob angehauchte – Debatte um Pädophile in der Anfangsphase der Grünen. Dem rechten und fundamentalistischen Blog- und Forenmob wird die Vorlage freuen.
Nur ist die verklausulierte Kinderporno-Anschuldigung den als Beweis beigefügten Screenshots zufolge allerdings offenbar völlig grundlos. Ansonsten hätte der Redakteur im übrigen Strafanzeige stellen müssen, unter Umständen auch gegen sich selbst. Selbst die "Bild", die den "Skandal" natürlich aufgriff, verschwieg diesen Aspekt des Vorwurfs (ein Blatt übrigens, dass auf nackte wie junge Frauen setzt, von hinten und von vorn, und von vielen Politikern auf Twitter verfolgt wird).
Kritik der Leser
Man wünschte sich den gleichen Journalisteneifer bei der Frage, welcher Politiker mit fundamentalistischen Homo-Gegnern verbunden ist. Eine Medienverfehlung im Sommerloch? So sahen es die meisten "Tagesspiegel"-Leser in Kommentaren auf Facebook oder unter der Nachricht selbst. Von "spießiger Doppelmoral" und von "Rufschädigung" ist die Rede. "Es fängt schon an wie in den USA", schreibt ein Leser, "fehlt nur noch, dass man die Bettwäsche der Politiker durchwühlt". Sogar weitere "Skandale" werden befürchtet: "Als nächstes dann 'ne Exklusiv-Reportage bei GayRomeo oder was?"
Kahrs selbst nahm es gelassen; ihm seien die Accounts nicht weiter aufgefallen, sagte er der Zeitung und machte rund 30 Verknüpfungen rückgängig. "Die meisten der nun gelöschten Profile hatten die Namen von Personen, da war nicht immer direkt zu sehen, worum es da geht", sagte er zu "Bild". Nebenbei sei es ihm peinlich, dass er unter den Accounts auch die AfD gefunden habe.
Zeichen der Zeit?
Vielleicht sollte man Kahrs aber damit nicht so einfach davon kommen lassen. Wie ein "Tagesspiegel"-Leser zurecht anmerkt: "Sind das die Auswirkungen des neuen Gesetzes aus dem Hause des Herrn Maas? Geht jetzt die große Hetze gegen alle los, die ihre Sexualität nicht heimlich unterm Betttuch verstecken?" In der Tat bahnt sich derzeit eine gefährliche Prüderie und Hysterie an, die über das Ziel der Bekämpfung von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie hinausgeht.
Der SPD-Bundesjustizminister plant derzeit eine Verschärfung der entsprechenden Gesetzgebung, die auch harmloses Porno-Surfen auf Tumblr & Co. zur Gefahr werden lassen kann. Musste man bisher im Besitz von Kinder- oder Jugendpornografie sein, um verurteilt zu werden, reicht demnächst bereits das Aufrufen eines entsprechenden Bildes im Browser ohne Speicherung auf Festplatte oder im Cache – selbst wenn das ein einzelnes Bild betrifft und ungewollt sein sollte: ein IP-Adressen-Protokoll des Betreibers könnte als Beweis ausreichen, zumal nun auch der Versuch einer Beschaffung strafbar sein soll.
Dazu kommt, das für Kinder- und Jugendpornographie bereits seit einigen Jahren die reine Nacktheit der Person ausreichen kann und unter Jugendliche auch Erwachsene fallen können, die noch wie Jugendliche aussehen. Durch neue Formulierungen werden erstmals auch Webcam-Streams zu einem Problem.
Eine weitere geplante Regelung bestraft übrigens auch das unbefugte Anfertigen von Nacktbildern (wie auch von "bloßstellenden Aufnahmen") von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (!); das galt bisher nur für geschlossene Orte, kann nun aber auch für Fotos vom FKK-Strand gelten. Und: Ebenfalls soll bestraft werden, wer ohne Erlaubnis Bilder von unbekleideten Kindern wie unbekleideten Erwachsenen weiterverbreitet, etwa in einem Tumblr-Blog. Dabei soll es übrigens keine Rolle mehr spielen, ob das geteilte Foto ursprünglich mit Erlaubnis der abgebildeten Person(en) entstanden ist. Das ergänzt bereits bestehende Regelungen zum Urheberrecht und Jugendschutz.
Internet-Nutzer müssen in Zukunft also noch mehr darauf achten, wem sie in sozialen Netzwerken folgen, welche Seiten sie aufrufen und was sie mit wem teilen. Das dürfte in der Praxis auch für Jugendliche selbst ein Problem werden – und sicher noch für den ein oder anderen Politiker. (nb)
Update 20.20h: Reaktionen
Der "Tagesspiegel" rechtfertigt sich mit einem Kommentar. Die Kollegen von taz und Männer kritisieren ebenfalls die Zeitung. Und auch auf Twitter wird debattiert.












