Das Kunstprojekt war eindeutig falsch konzipiert, aber der Mann, der im Glashaus saß, hat nicht mit Steinen geworfen: Dries Verhoeven beim öffentlichen Chat (Bild: Sascha Weidner)
Dries Verhoeven ist zum Opfer seiner eigenen Fragestellung geworden. Ein Kommentar zur gescheiterten Berliner Performance "Wanna Play?".
Von Kevin Junk
Die Performance "Wanna Play?", die am Sonntag überraschend endete, war eigentlich auf 15 Tage ausgelegt. Mit Handzetteln, die überall im Umkreis des Berliner Heinrichsplatzes klebten, wurde das Event breit angekündigt. Kuratiert vom Hebbel am Ufer, also durch eine renommierte Institution, sollte hier zusammen mit dem Künstler Dries Verhoeven eine öffentliche Intervention stattfinden, deren nachdrückliche Einladung im Titel bereits klar gemacht wurde: "Wanna Play?" leitete sich ab als Zitat aus einer typischen Konversation auf der schwulen Dating-App Grindr.
Grindr war vor fünf Jahren das erste soziale Netzwerk auf dem Markt, das mithilfe von Geo-Daten die Möglichkeit eröffnete, per Smartphone andere Mitglieder der App-Community aus der direkten Umgebung zu treffen. Damit switchte das Cruisen endgültig in den virtuellen Raum – mit weltweitem Erfolg. Mit schwulen Männern als die ersten User dieser App sind sie die bisher erfahrenste Gruppe im Umgang mit dieser Art von Medium, der Auswirkung der Nutzung auf das eigene sexuelle Verhalten und die eigene Psyche.
Was ist Liebe im 21. Jahrhundert?
Die angezettelte Revolution frisst ihr Kind: Dries Verhoeven hat sich eine Grindr-Auszeit verordnet
Wenn Dries Verhoeven sich nun also in einen Container sperrte und dort unter anderem via Grindr mit Menschen in Kontakt trat, sie zu sich in den Container einlud und die Konversationen an die Wand projizierte, dann suchte er sich ein Medium, das gewissermaßen die Urzelle der geosozialen Medien ist, die mittlerweile auf dem Markt sind – tender to all gender und für verschiedene Zielgruppen.
Die Frage nach der Liebe in Zeiten von Grindr zu stellen, ist so mutig wie notwendig. Was ist Liebe im 21. Jahrhundert eigentlich? Bestimmt nicht mehr der Zuckerguss über die kapitalistische Notwendigkeit einer Ehe. Bestimmt nicht mehr die bürgerliche Konstruktion. Was Liebe bestimmt, das müssen wir durch kulturelle Praxen austarieren und -loten.
Kann man sich in Zeiten von Grindr noch verlieben? Die Frage von Dries Verhoeven ist so banal wie böse. Es ist zu einfach zu sagen: "Natürlich kann man das! Blasphemie!" Der Künstler selbst bestreitet das nicht. Trotzdem wollte er im Selbstversuch Grindr missbrauchen, wollte die Möglichkeit von sexuellen Kontakten ausschließen, weil er in einem öffentlich einsehbaren Glascontainer saß. Er wollte bewusst Momente der Intimität konstruieren, die nicht auf sexuellen Handlungen beruhen. Durch diese "Zweckentfremdung" der App provozierte er seine Chat-Partner und forderte zum Nachdenken auf.
Die Projektion der Chatverläufe, Profildaten und Fotos erfolgte auf großen LED-Bildschirmen. Dabei achtete das Projekt darauf, die Daten zu verfälschen. Die Effekte, die dafür angewendet wurden, haben allerdings leider nicht ausgereicht, um zu vermeiden, dass Menschen, die mit Verhoeven interagierten, erkannt werden können. Das ist ein Fakt, aber dennoch war die Chance, jemanden tatsächlich zu erkennen, äußerst gering.
Dennoch passierte es, das Verhoeven im Laufe der Performance auf einen Mann traf, der – trotz rhetorischer Anspielungen, mehrerer Hinweise im Chat und im Profil von Verhoeven – sich beim Anblick des Containers so verletzt fühlte, dass er hinein stürmte und gegenüber dem Künstler handgreiflich wurde.
Verhoevens Installation hat Menschen unfreiwillig verletzt

Unbestritten: Verhoevens Installation war nicht wasserdicht, teilweise undurchdacht und hat unfreiwillig Menschen verletzt. Der Künstler war jedoch an keinem Punkt so arrogant, das nicht anzuerkennen – das Opfer wohl aber zu verbittert, um Verhoevens Entschuldigung anzunehmen. Wegen persönlicher Befindlichkeiten sieht sich das ganze schwule Berlin nun gespalten in zwei Lager – und auf Facebook und Co. werden die "Kunst", die schwule "Community", die "Privatsphäre", das "An-den-Pranger-stellen" und viele andere Themen, die eigentlich fruchtbar diskutiert gehören, durch den boulevardesken Schlamm gezogen.
Die Kritik an der Praxis, private Konversationen auf einen Bildschirm auf einer belebten Kreuzung zu projizieren, ist gerechtfertigt. Den Künstler aber in moralische Geiselhaft zu nehmen, als hätte er diese Möglichkeit erst konstruiert, geht viel zu weit. Die technischen Voraussetzungen sind da, auch für jeden Hetero mit Smartphone. Es ist möglich, wie in Ägypten und Uganda geschehen, schwule Männer via Grindr zu bestimmten Orten zu locken und dadurch homophoben Attacken auszusetzen. Was Verhoeven uns zeigt, ist wie delikat und zerbrechlich die Illusion von Privatsphäre im Internet eigentlich ist.
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir mit bestimmten Medien umgehen, das heißt wie wir die Räume, die sie schaffen, aber auch uns selbst im Umgang mit ihnen schützen – vor Überwachung, vor Missbrauch, vor negativen Einflüssen auf unseren emotionalen Haushalt. Die Installation ist in ihrer Komplexität und ihrem Scheitern daher ein wichtiger Impulsgeber für viele Diskussionsstränge.
Kunst muss immer politisch sein
Was bleibt also nach "Wanna Play"? Was ist mit der Liebe in Zeiten von Grindr? Scheinbar ist die Frage, die Dries Verhoeven stellte, so aufregend, so antreibend, so wichtig, dass eine ganze Schar von Männern ausrastet, sich persönlich betroffen fühlt und das intelligente Argumentieren vergisst. Verhoeven hat den Finger in eine Wunde gelegt und muss dafür bezahlen. Er ist kein Held, kein Märtyrer, aber er ist das Opfer seiner eigenen Fragestellung. Die angezettelte Revolution frisst ihr Kind. Es ist bedauerlich, dass diese Stadt und ihre Institutionen, die Menschen, die in ihr leben, und die Menschen, die in ihr Kunst machen, so wenig zusammenkommen können.
Kunst muss immer politisch sein, mit Gesellschaft interagieren, etwas bespiegeln und zurückwerfen. Sie ist kein gesetzter Raum – im Gegensatz zu Gesetzen nämlich kann sie flexibel reagieren. Die Performance ist vielleicht zu früh zum Ende gekommen, sie war eindeutig falsch konzipiert, aber der Mann, der im Glashaus saß, hat nicht mit Steinen geworfen, auch nicht den ersten.
Liebe in Zeiten von Grindr? Man begegnet der Suche nach ihr mit so viel Hass, dass man weiter bohren möchte.
Was ist das denn für eine Sichtweise.
Mal angenommen, ein User, der vielleicht nicht geoutet ist nutzt Grindr um irgendwie Kontakte zu finden und auf einmal wird dann sein Foto irgendwo von Kollegen, Freunden, Familie, o.ä.erkannt. Es haben sich schon Leute das Leben genommen, weil sie unfreiwillig geoutet wurden.
Und in manchen Kulturkreisen kann es lebensgefährlich sein, wenn die Familie, Freunde oder andere Angehörige des Kulturkreises mitkriegen, dass man schwul ist.
Und selbst wer offen schwul lebt, will vielleicht nicht, dass andere gerade erfahren, dass man momentan Sex sucht, o.ä.
Und daran ändern auch in der Umgebung aufgehängte Handzettel nichts. Oder muss man jetzt bei der Nutzung von Grindr erst mal immer jeden Winkel der Umgebung absuchen ob irgendwo so ein Zettel hängt.
Klar hat der Künstler das nicht beabsichtigt. Aber das macht es nicht besser und ein einfaches "Sorry" macht den Schaden nicht ungeschehen. Gut gemeint ist nicht automatisch gut gemacht.
Klar muss das Thema Internet-Dating und damit verbundene soziale und kulturelle Veränderungen diskutiert werden. Aber nicht auf Kosten unbeteiligter Dritter, die gar nicht wissen, dass sie Teil eines Experiments sind. Das ist einfach unethisch.
Ich bin froh, in einem Land zu leben, wo Datenschutz noch einen Wert hat und man nicht für jedermann ein gläserner Bürger ist. Und ganz ehrlich: wer Bilder von anderen einfach nur als Negativ veröffentlicht und meint, das würde genügen, ist einfach nur dumm.