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Sachbuch "Gay Berlin"
Vergiss Stonewall! Die Deutschen sind die wahren Homo-Revolutionäre
- 10. Januar 2015 4 Min.

Selbstbewusst "anders als die anderen" in den Goldenen Zwanzigern: Das Foto zeigt eine Gruppe aus dem Berliner Szenelokal "Marienkasino"
Der US-Historiker Robert Beachy hat eine verblüffende These: Die moderne Schwulenbewegung ist eine deutsche Erfindung.
Von Kevin Clarke
Man wundert sich ja schon ein bisschen, dass bislang nicht längst jemand eins und eins und eins und eins zusammengesetzt hat und zu dieser These kam: Deutschland und speziell Berlin ist die Geburtsstätte der modernen Homosexualität im Sinn einer eigenständigen "Identität", also eines Lebensentwurfs, der darüber hinausgeht, dass ein Mann mit einem anderen Mann Sex hat, aber sonst ein heteronormatives Leben führt.
Aus dem "Sodomiten", der ab und an von verbotenen Früchten nascht, weil er den (sündigen!) Kick sucht, wird eine biologische Spezies mit Anspruch auf Normalität, Gleichberechtigung und Dauerzustand. So jedenfalls steht es auf dem Cover von Robert Beachys englischsprachigen Buch "Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity" (Amazon-Affiliate-Link ). Und so führt es der Autor dann auf über 300 Seiten eloquent aus.
Das Wort "Homosexualität" stammt aus dem Deutschen

Das Buch, in dem es ausschließlich um Deutschland geht, wurde bislang nur in englischer Sprache veröffentlicht
Die Kernthese präsentiert Beachy bereits in der Einleitung. Die Deutschen haben das Wort "Homosexualität" erfunden und als erste auch tatsächlich gelebt – was Beachy u.a. am Beispiel von W.H. Auden und Christopher Isherwood illustriert. Als die nämlich um 1930 in Berlin waren und von dieser Form des Lebensstils kein Konzept hatten, lernten sie in der deutschen Hauptstadt, was es heißt, "schwul" zu sein, sich dafür nicht zu schämen und dies als Charaktereigenschaft anzuerkennen sowie als angeborene Neigung auszuleben. Was in dieser Form, damals, in England noch nicht möglich war. Und was in den USA auch erst sehr viel später Verbreitung fand.
In Deutschland hatte es mit Karl Heinrich Ulrichs bereits 1867 das erste offizielle Coming-out gegeben, bei einem Juristentag in München (of all places), da hatte Magnus Hirschfeld bereits 1897 sein Institut gegründet, da wurde im Rahmen der Eulenburg-Affäre Anfang des 20. Jahrhunderts über Homosexuelle schon in den Medien und in der Gesellschaft ausgewogen diskutiert, da gab es bereits zahlreiche Versuche, den Paragrafen 175 abzuschaffen und da hatte sich die Polizei der Hauptstadt schon vor dem Ersten Weltkrieg entschlossen, Homosexuelle zu schützen, weil ihre Treffen in Lokalen keine Gefahr für die Gesellschaft darstellen und das Phänomen der Erpressung als schlimmer eingestuft wurde als das des Schwulseins.
Dies alles beschreibt Beachy, seines Zeichens Geschichtsprofessor in Seoul, Schritt für Schritt in acht Kapiteln. Die lesen sich wie große Einzel-Essays zu den wichtigsten Etappen dieser Emanzipationssaga und Erfolgsgeschichte. Besonders spannend, weil nicht so allgemein bekannt, ist das Kapitel über Hans Bühler und den "völkischen" Männerbund, der aus der Wandervogelbewegung hervorging. Er führte direkt zur SA als Tummelplatz für schwule Männer. Zumindest bis zur "Nacht der langen Messer", mit der Hitler diesem Treiben ein abruptes Ende bereitete.
Ein Crash-Kurs in deutscher Homo-Geschichte

Davon können heutige Gay-Magazine nur träumen: "Die Insel" war mit 150.000 Exemplaren die auflagenstärkste Szene-Zeitschrift in der Weimarer Republik
Die Kapitel lesen sich auch als Einzeltexte wunderbar, selbst ohne jegliche Vorkenntnis. Man kann das Buch also als Crash-Kurs in Sachen deutscher Geschichte lesen. Aber: So flüssig und schlüssig der Text auch ist, Beachy ist niemals so intellektuell überraschend wie sein Kollege Jonathan Ned Katz, der eine sehr ähnliche Geschichte schildert in "The Invention of Heterosexuality" (Amazon-Affiliate-Link ), aber den Fokus eher auf die USA legt.
Die beste Pointe hebt sich Beachy für den Schluss auf. Nachdem er erklärt hat, dass die Deutschen über 100 Jahre Vorreiter der modernen Schwulenbewegung waren – lange bevor Stonewall ein Begriff war – wundert er sich auf der letzten Seite des Buchs darüber, dass sie ihre Gay-Pride-Märsche heute ausgerechnet "Christopher Street Day" (CSD) nennen. In völliger Negierung der eigenen Leistung.
Zu dieser Negierung passt, dass beide Bücher – das von Beachy als auch jenes von Katz – auf Englisch veröffentlicht wurden, aber nicht in deutscher Übersetzung vorliegen. Interessiert man sich hierzulande nicht für eigene bahnbrechende Errungenschaften? Glaubt man, damit bei uns nicht genug Mainstream-Leserschaft zu erreichen? (Sowohl die Chicago University Press als auch Alfred A. Kopf/Random House sind Mainstream-Verlage.) Oder fürchtet man, solche Geschichten kennt in Deutschland eh schon jeder und braucht sie nicht nochmal in neuem Aufguss?
Auf alle Fälle liefert Beachy dem Schwulen Museum* mit "Gay Berlin" ein Blaupause für die Gestaltung der neuen Dauerausstellung, die ab Ende 2015 zu sehen sein soll. Das historische Bildmaterial, das er auf 16 Seiten im Zentrum des Buchs vorstellt, enthält mehrere Dinge, die ich bislang nicht im Schwulen Museum* gesehen habe, auch nicht in der alten Dauerausstellung, die dort jedoch absolut hingehören. Insofern: ein rundum inspirierendes Buch
Robert Beachy: Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity. Sachbuch in englischer Sprache. 336 Seiten. Knopf Doubleday Publishing Group. New York 2014. ISBN: 978-0-307-27210-2. Ab 14,55 € bei Amazon.de.
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Kein Volk hasst sich selbst so wie die Deutschen. Dass es in Berlin viel liberaler war (und ist) als in den USA, darf nicht sein.
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Keine soziale Gruppe in Deutschland ist stärker amerikanisiert als die Schwulen.