https://queer.de/?23360
Kleine Blutsauger
Das Comeback der Sackratte

Die Filzlaus wird etwa 1 bis 1,5 Millimeter lang und ist mit bloßem Auge noch erkennbar (Bild: Wiki Commons / Doc. RNDr. Josef Reischig, CSc / CC-BY-SA-3.0)
- 07. März 2015 5 Min.
Von wegen vom Aussterben bedroht: Der schwule Trend zu Körperhaar und Vollbart ist ein Paradies für die gemeine Filzlaus.
Von Robert Niedermeier
Ein blassrosa Schatten huscht vorüber, taucht für eine Milisekunde im Sichtfeld auf. Kaum merklich, aber unangenehm ist auch das seltsame Zwicken beim Augenzwinkern. Mit der Zeigefingerspitze versucht der Berliner den Fremdkörper wegzureiben. Vergebens. Ein Gang ins Bad soll Klarheit verschaffen, der Blick in den Spiegel komplettiert das Grauen: "Das bewegt sich, oh nein, es lebt."
David ist schockiert. Ein klitzekleiner Blutsauger macht sich an seinem Augenlid zu schaffen, klammert sich an einer einzelnen Wimper fest, derweil sich die Phthirus Pubis am Blut seines angeekelten Opfers labt. Die im Volksmund als Sackratte geläufige Schamlaus ist nur eines von vielen Exemplaren, die Davids behaarten Körper befallen.
Und David ist nicht allein: Insbesondere in Berlin berichten Hautärzte und Apotheker von einem Comeback der Filzlaus.
Öfters am Sack gekratzt als sonst

Filzlausbefall im Schamhaar (Bild: Wiki Commons / SOA-AIDS Amsterdam / CC-BY-SA-3.0)
Das erste Kribbeln zwischen den Beinen hat der ahnungslose Wirt des maximal zwei Millimeter großen Insektes noch verdrängt. "Ich habe mich ein, zwei Tage lang öfters am Sack gekratzt als sonst." Nachdem David den Parasiten am Auge entdeckt, öffnet der 34-Jährige hastig seine Jeans. Auf dem Klodeckel hockend guckt er endlich genau hin. Dutzende Filzläuse kolonisieren bereits den gesamten Schambereich.
"Besonders wohl fühlen sich die kleinen Monster rund um den Hodensack, wo es kuschelig warm ist", erfährt David am eigenen behaarten Leib. Mit ihren stark gekrümmten, klauenartigen Beinen umgreifen die Tiere den Haarschaft nahe der Hautoberfläche. Dann bohren sich die Mini-Vampire mit ihren stechend-saugenden Fresswerkzeugen in die Haut, beginnen mit der täglich drei bis viermal wiederholten Blutaufnahme.
Aufgrund seiner starken Behaarung und Körperfülle bietet der bärige Call-Center-Mitarbeiter David den Plagegeistern ein ideales Milieu: "Von der Popo-Ritze bis hoch zur Achselhöhle, selbst in einer meiner Augenbrauen fand ich eine Filzlaus", berichtet David: "Auch am Hinterkopf in einer Nackenfalte, in der Armbeuge und am Körper in der Bauchfalte – überall."
Drei bis vier tropfenförmige, weißliche Eier legt ein einziges Muttertier täglich in Davids Pelz ab. Die mit bloßem Auge gerade noch erkennbare Nissen reihen die Filzläuse am Scham-, Brust- oder Achselhaar wie die "Matrosen am Mast" auf und kitten sie mit einem klebrigen, nicht wasserlöslichen Sekret fest. Gemütliche Nischen zur ungestörten Nahrungsaufnahme und Haare en masse zum Festhalten finden die Eindringlinge bei ihrer neuesten Eroberung zuhauf.

Intensiver Juckreiz führt zu gesundheitlichen Risiken
"Mit Seife und Wasser ist den Biestern nicht beizukommen", muss David feststellen. Vor allem hat er gelernt, dass die international als Crab bzw. Pubic Louse benannte Schamlaus keinesfalls vom Aussterben bedroht ist. Zwar schränken Modeerscheinungen wie das "American Waxing" und die klassische Intimrasur den Lebensraum der Filzaus zunehmend ein, der Retro-Trend zum Vollbart und freiem Körperhaarwuchs im Allgemeinen befördert hingegen ein Comeback.
Eine Lebensgefahr geht von den zu jeder Jahreszeit weltweit in allen Klimazonen agilen Filzläusen nicht aus. Der intensive Juckreiz, den sie verursachen, kann jedoch gesundheitliche Konsequenzen haben: Je stärker der Befall oder sensibler der humanoide Gastgeber ist, desto mehr zerkratze Hautstellen treten auf.
Darauf verweist auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: "Diese kleinen Wunden können Eintrittspforten für andere Infektionen sein. Das Risiko, sich mit einer anderen sexuell übertragbaren Infektion zu infizieren, erhöht sich", warnt die Behörde auf ihrer Webseite.

Radikal-Rasur und der Griff zur chemischen Keule
Unbehagen bereitet eine weitere Erkenntnis: Das zunehmend nervige Jucken ist vornehmlich den Ausscheidungen geschuldet, welche die vollgefressenen Viecher ungefragt hinterlassen. Kleine blaue Flecken zeugen von den Einstichstellen der gierigen Mäuler.
"Schön ist das nicht", findet David. Seine Gegenwehr: "Trotz Protestes meines Freundes habe ich mich komplett rasiert". Mit einer gründlichen Rasur zieht man der Laus geradezu den Boden unter den Füßen weg und rodet ihre Nistplätze radikal.
Rigoros greift David obendrein zur chemischen Keule. Die rezeptfrei in der Apotheke erhältlichen Mittel wie Goldgeist forte, Infektopedicul oder Jacutin rotten die Elterntiere mitsamt ihrer Brut aus. Doch David beschreibt Nebenwirkungen: "Mein Sack sah nach ein paar Tagen aus wie ein gepflockter Schimmelkäse." Tatsächlich trocknen übermäßig behandelte Hautbereiche stark aus. "Meine Haut schuppte, bekam rote Stellen und es juckte schon wieder", beklagt die geschundene Sackratten-Beute.
Ökologische Kriegsführung: Die Filzläuse verhungern lassen

Fest ans Haar geklammert: Mit Seife, Wasser und ordentlich schrubben ist den Biestern nicht beizukommen
Manch Dermatologe empfiehlt die ökologische Kriegsführung. Das hautschonende Einreiben mit pflanzlichen Ölen umhüllt den Chitinpanzer der Laus. Das Tier erstickt. Um seine Kreuzberger WG-Bude schamlausfrei zu bekommen, verschloss David die Zimmertür und zog spontan bei seinem Freund ein: "Nach einer Woche ohne Menschenblut sind auch eventuell nachträglich frisch geschlüpfte Filzläuse verhungert."
David hat den Kampf gewonnen, ohne eine Vollglatze in Kauf zu nehmen. "Evolutionsbedingt ist das Haupthaar das exklusive Refugium der gemeinen Kopflaus", informiert sich David korrekt noch vor der stundenlangen Ganzkörperrasur beim Hautarzt. Die Aufteilung der Bio-Nischen unter den Gattungen hat sich im Laufe der Evolutionsgeschichte eingespielt. Ursprünglich haben sich die Menschen die Ungeziefer beim Gorilla eingefangen.
Beim artenübergreifenden Sex? Nein. Anders als vielfach angenommen, wechseln die hungrigen Sechsbeiner nicht ausschließlich beim Geschlechtsverkehr zum nächsten Opfer über. Intim ist David zum Zeitpunkt seines Befalls ausschließlich mit seinem Partner. Sein Freund beteuert dasselbe monogame Verhalten. "Deshalb hat es ihn schon stutzig gemacht, warum er sich bei mir die Sackratten eingefangen hat", erzählt David. Eifersucht und Misstrauen lag in der vom Entlausungsmittel geschwängerten Luft.
Die Filzlaus wandert auch von Bart zu Bart
Fakt ist: Filzläuse können bis zu 24 Stunden ohne Nahrungsaufnahme überstehen. "Für kurze Zeit überleben die Tiere auch in Handtüchern", weiß der Berliner Hautarzt Dr. Axel Rothe. Aufgrund seiner langjährigen Praxiserfahrung hält er je nach Ausprägungsart mehrere Transferarten für möglich. "In WGs kann es deshalb zu Übertragungen ohne Sexualverkehr kommen", attestiert Rothe.
Körperliche Nähe reicht aus, um einer in ihrem fünfwöchigem Leben stets auf neuen Lebensraum lauernden Filzlaus eine Brücke zum nächsten Wirt zu bauen. Sitzt eine Sackratte bereits im Bart oder den Wimpern des Gegenübers, genügt zur Übertragung auch eine innige Kneipen-Umarmung.
Panik ist allerdings nicht angebracht: Des Hüpfens, Springens oder Fliegens ist die eher gemächlich von Haar zu Haar wandernde Schamlaus nicht mächtig. "Sexualverkehr ist der durchaus übliche Übertragungsweg", räumt Dr. Rothe ein.
Spätestens eine Woche nach der Infektion haben die Eroberer sich beim nächsten Wirt gut eingelebt. Den abgelegten Eiern entschlüpfen neue Kreaturen. Das große Krabbeln beginnt von vorn.
Links zum Thema:
» magazin.hiv: Rettet die Filzlaus!















Netter Artikel, aber er beschreibt eben nur einen vorübergehenden Trend. Die ( zumindest teilweise) Kinn- und Körperrasur setzt sich seit Jahren/ Jahrzehnten fort.
Diesem Trend des Vollbarts zb gehen die wenigsten Schwulen nach.
Er ist bei Schwulen und auch bei Heteros nicht die Regel. Trend hin oder her, es tendiert bei den meisten die Bart tragen eher Richtung 3 Tage Bart, als Richtung Rauschebart.
Und was den Körper betrifft: nicht nur die weiblichen, auch die Mehrheit der männlichen Heteros rasieren oder stutzen ihren Intimbereich.
Auch Trends können diese gesellschaftliche Entwicklung nicht aufhalten.
Somit ist die Sackratte für die meisten ein vorübergehenderTrendsetter.
So wie früher der Schnurrbart, wird auch der Vollbart als Mainstream- Trend bald Geschichte sein und auch im Intimbereich wird weiter gestutzt oder rasiert werden.