Eine verrohte Dorfgemeinschaft in den späten 1940er Jahren braucht ihren Sündenbock (Bild: JU/Ostkreuz)
Martin Kušej hat Martin Sperrs Drama "Jagdszenen aus Niederbayern" an den Münchner Kammerspielen neu inszeniert – und erzählt dabei die Geschichte von hinten.
Von Artur Senger
Der argentinische Brutalo-Regisseur Gaspar Noé erzählte seinen berüchtigten Vergewaltigungsfilm "Irreversibel" aus dem Jahr 2002 von hinten nach vorn. Nun transportiert Martin Kušej diese Erzählstruktur auf die Bühne – und zwar nicht auf die des von ihm geleiteten Residenztheaters, sondern der benachbarten Münchner Kammerspiele.
Gegenstand seiner Rückwärtserzählung ist "Jagdszenen aus Niederbayern", Martin Sperrs in den 1960er Jahren entstandenes Volksstück über eine verrohte Dorfgemeinschaft in den späten 1940er Jahren.
Dessen Plot ist, chronologisch erzählt, so wenig überraschend, dass man ihn nicht groß erklären braucht: Der Außenseiter Abram kommt in sein Heimatdorf zurück. Stück für Stück verlagert sich der Hass der bornierten Bauernschaft von einer Frau, die in wilder Ehe und mit einem Sohn mit Lernschwierigkeiten lebt, auf den schwulen Abram, bis dieser einen Mord im Affekt begeht und dafür vom Lynchmob in den Tod gehetzt wird.
Die Rückwärtserzählung erzeugt Spannung
Eine fragwürdige Besetzung: Katja Bürkle (re.) spielt den schwulen Lumpenproletarier Abram (Bild: JU/Ostkreuz)
Seinen Tod, der statt am Ende also am Anfang der Kammerspiele-Inszenierung steht, hat Kušej bzw. Dramaturg Jeroen Versteele zum Originaltext dazugedichtet. Vielleicht, weil auch "Irreversibel" mit dem Rachemord an einem Schwulen anfängt, wer weiß.
Durch die Rückwärtserzählung kommt nun etwas Spannung in die geradlinige Story, insofern sich dem Zuschauer die Beziehungen der Dörfler erst erschließen müssen: In welchem Verhältnis steht Abram zu der von ihm ermordeten Tonka? Warum genau wird das unverheiratete Paar von den anderen nicht akzeptiert? Und was denkt eigentlich Abrams Mutter über ihren "sündhaften" Sohn?
Das alles offenbart sich langsam, nach einigen zielgenauen Splatter- und Vergewaltigungsszenen, und bringt Leben und Tod in jene gräulich-grausige Landschlachthofwelt. Bühnenbildnerin Annette Murschetz hat sie mit reduzierten Mitteln aufgebaut, und in Kombination mit dem stets über-realistischen Licht von Jürgen Kolb entsteht eine Albtraum-Stimmung, die den ganzen Abend aus seinem Anachronismus reißt.
Denn trotz Rewind-Effekt bleibt die Frage, wovon das Schauspiel heute überhaupt erzählt. Die preisgekrönte "Jagdszenen"-Verfilmung von Peter Fleischmann, die ins Kino kam, als der Paragraf 175 noch unvermindert in Kraft war, kann man schließlich auf DVD anschauen.
Kušej hat seine Fassung sogar zugespitzt, obwohl nicht einmal in seiner Heimat Kärnten noch bewaffnete Lynchmobs herumlaufen, um Schwule zu jagen, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Von anderen Weltregionen lässt sich das zwar nicht behaupten, doch obwohl die Inszenierung auf eine allzu bayerische Färbung verzichtet, erhebt sie nirgends den Anspruch auf Universalität.
Nach anderhalb Stunden nichts wirklich Neues gesehen
Das Stück ergründet die unerschütterliche Willkür des Etablierten-Außenseiter-Verhältnisses, aber Schlagworte wie "aus der Stadt zurück", "schwule Drecksau", "2.500 Mark" und "vergasen" sind eben doch sehr spezifisch – zu sehr.
Also muss sich dem Abend doch wenigstens eine Kritik an Geschlechterrollen abgewinnen lassen. Denn Abram wird gespielt von Katja Bürkle, die überzeugend als schwäbische Lesbe durchgeht, aber eben keine darstellen soll, sondern einen schwulen Lumpenproletarier. Warum auch immer das so ist, es hilft nichts: Nach anderthalb Stunden kommt man heraus aus dem Theater, wie man reingekommen ist und ohne etwas wirklich Neues gesehen zu haben.
Auch das hat die Münchner Fassung der "Jagdszenen aus Niederbayern" gemein mit einem Film wie "Irreversibel", von dem als einziges die schockierenden Bilder hängen bleiben. Oder, wie es die skrupellose Metzgerin ausdrückt: "Ihr könnt doch nicht arbeiten, wenn ihr dauernd laut denkt!"
Infos zum Stück
Jagdszenen aus Niederbayern. Autor: Martin Sperr. Regie: Martin Kušej. Darsteller: Katja Bürkle, Silja Bächli, Anna Drexler, Gundi Ellert, Pauline Fusban, Hans Kremer, Cristin König, Christian Löber, Anna Maria Sturm, Michael Tregor, Jeff Wilbusch. Ort: Münchner Kammerspiele, Schauspielhaus, Maximilianstraße 26-28. Weitere Aufführungen am 14.3. (20h), 20.3. (20h), 12.4. (20h30) , 20.4. (20h30) und 26.4. (20h).