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"Grimm" an der Neuköllner Oper

Böser Wolf mit Waschbrettbauch


Das Musical "Grimm" des schwulen Erfolgsteams Peter Lund/Thomas Zaufke erzählt die "wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf" (Bild: Neuköllner Oper)

  • 22. März 2015 4 6 Min.

In Berlin hatte das Musical "Grimm" Premiere. Und beeindruckte mit homosexuellen Schweinchen, einem frechen Rotkäppchen und einem sensationellen Wolf.

Von Kevin Clarke

Diese Woche stellte Barrie Kosky seine neue Spielzeit an der Komischen Oper Berlin vor und sagte, mit Bezug auf die vielen Operetten und Musicals, die zum gigantischen Erfolg seines Hauses beigetragen haben: "Diese Stücke sind für virtuose Darsteller geschrieben und ihre ganz besonderen, hochindividuellen Talente. Wir suchen Titel aus, die haargenau zu den Topdarstellern passen, die wir zur Verfügung haben. Nur so können unsere Produktionen ihre maximale Wirkung entfalten."

Mit diesem Satz im Ohr saß ich einen Tag später in der kleinen Neuköllner Oper, um die Premiere des neuen Musicals "Grimm" von Thomas Zaufke und Peter Lund zu erleben, wo zehn Studenten der UdK in verschiedenen Märchenrollen zeigen, was sie können. Und das ist derart virtuos, dass es dem Zuschauer die Sprache verschlagen kann.

Während Kosky ausgereifte künstlerische Persönlichkeiten und Superstars im Angebot hat, von den Geschwistern Pfister, Katharine Mehrling, Dagmar Manzel, Stefan Kurt usw., muss der Nachwuchs seine individuelle Note teils noch finden, zeigt aber oft schon jetzt, wo die Reise hingehen könnte. Und das ist, als Versprechen für die Zukunft, manchmal aufregender als "fertige" Stars zu sehen.

Die zehn Studenten, die in "Grimm – die wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf" zu bestaunen sind, traten schon letztes Jahr gemeinsam in der Show "Mich beschäftigt einfach die Aufrechterhaltung von Erotik in langjährigen Beziehungen in größerem Maße als die Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems". Ein sperriger Titel, zugegeben, aber eine überwältigende Produktion, in der jeder/jede einzelne Mitwirkende bewies, dass von ihm/ihr großes zu erwarten ist.

Die Toleranz des Anderen


Schweinchen Didi, gespielt von Dennis Hupka, hat im Musical sein Coming-out (Bild: Neuköllner Oper)

War die Show 2014 eine sehr "reale" Sache, wo Darsteller wie "echte" Menschen wirkten, mit sehr "echten" Identitätsproblemen rund um Beziehung und Sexualität, schickt Autor und Regisseur Peter Lund die Truppe nun in den Märchenwald, und zwar in Kindertheater-artigen Dekorationen und Kostümierungen: als drei kleine Schweinchen, als Rotkäppchen, als böser Wolf, als Geißlein usw. Das hat teils die Wirkung einer Grips-Theater-Produktion – charmant, aber mit Belehrungsanspruch.

Die Lehre hier ist: Die zweigeteilte Welt von spießigem heteronormativem Dorf (ganz in Weiß) und befreitem homophilen Wald (ganz in Schwarz) muss überwunden werden, jeder soll hier wie dort sein dürfen, was er/sie will, und alle sollten das Anderssein als Bereicherung akzeptieren.

Wenn also ein Schweinchen lieber ein Gockelhahn sein will, warum nicht? Und bloß weil jemand "Schweinchen Dick" heißt, muss sie noch lange nicht dick sein, genauso wie "Schweinchen Schlau" nicht schlau sein muss. Und Wölfe können nett sein und dürfen auch Beziehungen mit Menschen eingehen, ebenso Hunde mit Eulen oder Wildschweine mit "normalen" Schweinen, oder in diesem Fall, Sau mit Wildsau.

Die Botschaft ist nicht mehr sonderlich originell. Oder anders formuliert: Sie ist wichtig, auch verständlich umgesetzt, kommt aber an Brillanz nicht an Stephen Sondheims Musical-Hit "Into the Woods" ran. Da der derzeit im Kino läuft (queer.de berichtete), drängt sich der Vergleich geradezu auf, allein schon deshalb, weil ähnliche Charaktere auftreten und manche grundsätzliche musikalische Gestaltungsmerkmale ähnlich sind. Nur dass Sondheim eben …. na ja, Sondheim ist, und die Musik hier nicht ganz so virtuos mit Texten und Inhalten spielt.

Allerdings glänzt auch "Grimm" damit, dass die bekannte Märchenfassade bis in die letzte Faser mit Sexualität durchdrungen ist und es trotz Kinderkulisse um sehr erwachsene Themen geht, für die, die das wahrnehmen wollen. Das Premierenpublikum nahm es wahr und lachte mehrmals lauthals auf, bei Witzen mit "geöffneten Dosen", XXL-Cockringen, die zur Verlobung verschenkt werden und dergleichen mehr.

Bette Midler lässt grüßen



Um auf Barrie Kosky zurückzukommen: Der etwas unvorteilhafte Vergleich mit Sondheim und "Into the Woods" fällt letztlich nicht ins Gewicht, da die Darsteller so genial sind, dass sie auch das Telefonbuch vorlesen könnten und aufregend wären. Sie schaffen es, selbst in der anonymisierenden Verkleidung Charakterstudien zu entfalten. Das fiel mir besonders auf im Fall des schizophrenen Schweinchens Didi, gespielt von Dennis Hupka. Wie er in seiner weiß-rosa Gesichtsbemalung und im Fat Suit eine verschreckte Kreatur spielt, die dann – mit dem Hintern hoch in die Luft gereckt, um vom Wolf in den "Schinken" gebissen zu werden – plötzlich die Liebe zu einem Mann mit einem "Ping" entdeckt, das war phänomenal. Anrührend und ergreifend.

Gleiches gilt, auf ganz andere Weise, für Sophia Euskirchen als Oma Eule. Als junge Frau diese altersweise Figur mit Witz und Ernsthaftigkeit zu spielen, und zwar überzeugend, ist eine Leistung; ich dachte mehrmals, dass Bette Midler dies auch nicht besser hinbekommen hätte, weder stimmlich noch darstellerisch.

Perfekte Besetzung der zentralen Rollen



Der offensichtliche Hingucker der Produktion sind allerdings die zwei zentralen Rollen: Rotkäppchen und der Wolf, namens Grimm. Ich kann nur sagen, Devi Dahm und der hühnenhafte Jan-Philipp Rekeszus sind perfekt. Punkt. Ausrufungszeichen. Noch ein Ausrufungszeichen. Weil alles stimmt: Körpersprache, rollendeckender Typ, Ausstrahlung, die Chemie untereinander. Beide verfügen über raumgreifende Stimmen mit individueller Färbung; sie hat diesen leicht schnippischen Unterton, er einen höhensicheren Broadwaybariton mit markigem Timbre. Und ja, ein Waschbrettbauch im Wolfskostüm mindert die positive Wirkung keinesfalls!

Drumherum weitere exzeptionelle Einzelleistungen. Fabian Gallmeister schafft es, mit der äußerst unsympathischen Rolle des homophoben Schweinchen Schlau große Wirkung zu entfalten. Anthony Curtis Kirby ist als leicht trotteliger Hund Rex im Konflikt zwischen Dorfgemeinschaft und Jagdinstinkt ("Blut beleckt") eine Nummer für sich. Das gilt auch für Feline Zimmermann als zartes Schweinchen Dick ("Dicklinde"), die sich in die Wildsau Kiara Brunken im Punk-Look verliebt. Was in Form von wunderbaren lesbischen Retro-Duetten im Foxtrott und Charleston-Rhythmus liebevoll ausmusiziert wird, die für mich zu den musikalisch stärksten Momenten des Abends zählen.

Als schwäbelnde Mutter Geiß ist Katharina Hierl einerseits zum Schreien komisch, andererseits mit ihrer Doppelmoral erschreckend. Die Verführungsszene, in der sie den Wolf flachlegt, war grandios. Als dorfältester Hund namens Sultan macht Dennis Weißert gute Figur. Er sowie alle anderen setzen die Choreographie von Neva Howard in der Schwarz-Weiß gehaltenen Bühne effektvoll um.

Eine Bereicherung der Berliner Szene



Die Premiere wurde ekstatisch bejubelt; völlig zu Recht. Dieses "Grimm"-Musical ist eine Bereicherung der Berliner Szene, für alle, denen Stage Entertainments "Ich war noch niemals in New York" oder "Hinterm Horizont" nicht genug ist und die mehr wollen als "West Side Story" an der Komischen Oper.

Da es sich, wie gesagt, um zehn Ausnahmetalente handelt, sind sie wenig überraschend fast durch die Bank weg engagiert worden, um im Sommer bei der Berliner Premiere des Musicals "Next to Normal" am Renaissance Theater dabei zu sein – mit Katharine Mehrling als Star. Dann werden sie nicht in Märchenkostümen auftreten, sondern wieder "real".

Ich muss gestehen, dass ich mich darauf freue. Für die Übergangszeit habe ich bereits eine weitere Karte für "Grimm" nächste Woche gekauft. Und eine für übernächste Woche. Von solchen Waldausflügen kann man(n) nicht genug bekommen, besonders weil am Ende der Wolf den niedlichen Dennis Hupka als verliebtes Schweinchen auf dem Arm rein trägt … und eben nicht das Rotkäppchen!

Infos zum Stück

Grimm – Die wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf. Ein Musical von Thomas Zaufke und Peter Lund. Noch bis zum 24. April an der Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131-133 in Berlin.

#1 Musical-FanAnonym
  • 22.03.2015, 14:32h
  • "für alle, denen Stage Entertainments "Ich war noch niemals in New York" oder "Hinterm Horizont" nicht genug ist"

    Wobei man sagen muss, dass "Ich war noch niemals in New York" aus Homosicht ein sehr lohnenswertes Musical ist. Das Stück beschreibt die Geschichte dreier Paare, von denen eines offen schwul ist.

    Und die schwule Love-Story (mit Happy-End!) wird in "Ich war noch niemals in New York" vollkommen gleichberechtigt erzählt und es gibt auch einen schwulen Kuss und ein Plädoyer gegen Scheinheiligkeit und Spießigkeit.

    Und die ganze Inszenierung ist bombastisch. Die großen Ensembleszenen, die Kulissen und Effekte, die Kostüme, die Musik und Orchestrierung - alles top.

    Also "Ich war noch niemals in New York" kann ich auf jeden Fall auch nur wärmstens empfehlen. Das lief ja auch schon in Hamburg, Stuttgart und Oberhausen und ist eines der erfolgreichsten Musicals der letzten 10 Jahre im deutschsprachigen Raum. Ein richtiges Gute-Laune-Stück.
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#2 Sveni MausiAnonym
  • 22.03.2015, 14:33h
  • Und wo ist nun der Waschbrettbauch?
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#3 Michael 1958Anonym

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