Heute queer.de-Geschäftsführer, damals AL-Kandidat: Micha Schulze 1989 mit der Homo-Ausgabe des "Charlottenburger Stachel". In dem Parteiblatt schrieb Kurt Hartmann vom AL-Schwulenbereich über Pädophile, dass sie "wegen einvernehmlicher Sexualität mit Kindern gnadenlos im Knast sitzen müssen" (Bild: privat)
Wir gingen gegen Ausbeutung und für Frieden auf die Straße – und haben bei sexuellem Missbrauch und Gewalt die Augen zugemacht. Warum?
Von Micha Schulze
Schock. Scham. Schuld. Der Bericht der Berliner Grünen über den Umgang der Partei mit Pädophilie und Kindesmissbrauch hält der Westberliner Schwulenbewegung der 1980er Jahre einen Spiegel vor, auch mir selbst.
Ich werde in dem Bericht als Kronzeuge aufgeführt, dass Pädosexualität im Kontext der schwulen Lebensweisenpolitik der damaligen Alternativen Liste (AL) "immer in den Köpfen präsent" war: "Dabei darf nicht übersehen werden, dass schwule Politik [im Bezirksparlament] immer nur Realpolitik sein kann", sagte ich im Frühsommer 1989 dem Magazin des Berliner Schwulenverbands. "Eine radikale Homopolitik, die die Interessen von Pädos, S/M-LiebhaberInnen und Tunten gleichermaßen berücksichtigt, Ehe- und Familienstrukturen in Frage stellt, ist auf diesem Weg nicht durchsetzbar."
Dazu muss man wissen, dass ich 1988 begann, mich bei der Alternativen Liste zu engagieren. Das war vor meiner journalistischen Laufbahn. Ich war Student, 20 Jahre jung, zückte die Homo-Karte, kandidierte in Charlottenburg für die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) und wurde im Januar 1989 auch prompt hineingewählt. Der AL-Schwulenbereich hatte mich dabei unterstützt.
Die Pädos gehörten überall dazu
Schwule, Pädos, Sadomasos und Tunten – so naiv und dumm meine Aneinanderreihung heute klingt, sie war vor einem Vierteljahrhundert eine übliche Aufzählung. Die Pädos gehörten überall dazu. Sie hatten ihr eigenes Regal im schwulen Buchladen, engagierten sich im Bundesverband Homosexualität und im Treffen Berliner Schwulengruppen, tauchten in Ralf Königs "Schwulcomix" auf, trafen sich im SchwuZ und arbeiteten selbstverständlich bei "Siegessäule" und "Magnus" mit.
Mit Anfang 20 hatte ich die ganze Welt in Frage gestellt, doch das Bündnis mit den Pädos niemals auch nur angezweifelt. Ich plapperte dieses Mantra nach und bin dafür verantwortlich, dass wohl andere es mir nachplapperten. Heute finde ich es unentschuldbar, es ist mein größtes Versagen: Ich bin gegen Ausbeutung und für Frieden auf die Straße gegangen und habe ausgerechnet bei Gewalt und sexuellem Missbrauch in der eigenen Partei, in der eigenen Bewegung die Augen zugemacht. Jedes Bewusstsein für die Leiden der Opfer fehlte.
Warum bloß hat es so lange gedauert, bis ich eingesehen haben, dass es keine "einvernehmliche" Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen geben kann und dass es richtig und wichtig ist, im Strafgesetzbuch Schutzaltersgrenzen zu definieren? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.
Meine Zeit bei den Grünen endete 1991, doch noch Mitte der 1990er Jahre habe ich als Verleger der "Rosa Zone" Kleinanzeigen der Pädogruppe "Krumme 13" angenommen – und dies erst gestoppt nach langen Diskussionen mit Leserinnen und einer Hausdurchsuchung (weil die Redaktion im Adressbuch des Gruppenleiters stand). Erst 1997 mit dem Launch der Zeitung "Queer" und selbstverständlich beim heutigen queer.de habe ich die überfällige Trennlinie gezogen.
Damals wollten wir alles abschaffen
Der naheliegendste Erklärungsversuch für die frühere Allianz ist sicherlich, dass sich die Forderung von schwulen und Pädo-Aktivisten, das Schutzalter zu senken, überschnitt. Als ich mich von 1989 bis 1991 in der Alternativen Liste engagierte, gab es schließlich noch den Paragrafen 175, der schwulen Sex erst ab 18 Jahren erlaubte – während das Schutzalter für Lesben und Heteros bei 14 Jahren lag.
Gegen diese Diskriminierung zu protestieren, reichte der frühen Berliner Schwulenbewegung nicht. Und was die Alternative Liste betrifft, so waren wir vor 25 Jahren überhaupt sehr übermütig und radikal und wollten fast alles abschaffen, inklusive Armeen, Knästen und Autos. Warum nicht auch das komplette Sexualstrafrecht? Klingt schon so spießig!
Doch während wir über die "autofreie Stadt" heute als sympathische Utopie noch schmunzeln können, ist die Legalisierung sexueller Handlungen mit Kindern einfach nur eine Horrorvorstellung.
Die Schwulenbewegung, das zeigt der Bericht, ist von den Pädos nicht nur verführt worden, sie hat sich bereitwillig verführen lassen. Denn von der Ehe-Öffnung hat vor 25 Jahren so gut wie niemand geredet. Viele bewegte Schwule, mich eingeschlossen, wollten gerade nicht "normal" sein. Wir fühlten uns wohl als Outcast, wollten provozieren und haben uns deshalb mit den "schlimmsten Schmuddelkindern" der Gesellschaft solidarisiert.
In Wahrheit haben mich die Pädos und ihre Forderungen nicht die Bohne interessiert. Ich habe mich, soweit ich mich erinnern kann, nicht aktiv für sie eingesetzt. Ihre Forderungen aber auch nicht bekämpft.
Je mehr ich schreibe, um so unzufriedener bin ich mit meinen eigenen Erklärungsversuchen. Lässt sich der größte Fehler der frühen Berliner Schwulenbewegung, das eigene Versagen so banal begründen?
Nicht nur Agitation, sondern echter Missbrauch
Viele Fragen bleiben offen. Das Erschreckende an dem Bericht der Berliner Grünen ist, dass eben nicht nur unsägliche Thesenpapiere geschrieben, diskutiert, abgestimmt und veröffentlicht wurden, sondern dass es innerhalb der Partei und ihres Schwulenbereichs reale Missbrauchsfälle gab. Zu den im Bericht genannten Tätern hatte ich keinen Kontakt. Bei den Opfern kann ich mich nur für meine Blind- und Dummheit entschuldigen. Und es muss geklärt werden: Wer hat davon gewusst, wer hat dies aktiv unterstützt?
Die Berliner Grünen haben mit ihrem ehrlichen Bericht und ihrem Schuldeingeständnis großen Mut bewiesen, denn mit diesem Thema lassen sich wahrlich keine Wahlen gewinnen. Jetzt sind wir, die "Veteranen" der Westberliner Schwulenbewegung, gefordert, es der Partei gleich zu tun und unsere Versäumnisse, unsere unrühmliche Geschichte aufzuarbeiten. Und uns auch die Frage zu stellen, ob wir wirklich alle Pädo-Zöpfe endgültig abgeschnitten haben. Eine Konferenz, eine Podiumsdiskussion zum Thema wäre vielleicht eine Idee.
Eine schonungslose Aufarbeitung sind wir nicht nur den Opfern, sondern auch der jüngeren queeren Generation schuldig, die wir mit unseren Fehlern aus der Vergangenheit ungewollt in Mitleidenschaft ziehen.
Denn auch das muss festgehalten werden: Die jungen LGBT-Aktivisten, die heute Forderungen aufstellen, Schulaufklärungsprojekte betreiben, Jugendgruppen begleiten oder als aktuelle Redakteure von queer.de oder der "Siegessäule" für die Ziele der Bewegung kämpfen – sie und der Rest der nachwachsenden LGBT-Generation hatten und haben mit Pädo-Aktivisten nichts, aber auch gar nichts mehr am Hut.
Wahrscheinlich lag es an der damaligen Stimmung.
Sexuelle Befreiung. alles was vorher unterdrückt war, war nur wegen des bösen Systems unterdrückt und muss nun Solidarität erfahren.
Der Feind meines Feindes ist mein Freund und besser, man hält zusammen anstatt dass die eigene Bewegung sich in internen Kämpfen schwächt.
Wahrscheinlich haben sich viele auch nicht so sehr für die Inhalte der anderen Untergruppen interessiert.
Andernfalls kann ich es mir nur mit extremer ideologischer Hörigkeit erklären. Es ist frei, also muss es gut sein, egal, was das Bauchgefühl sagt. zumindest hoffe ich das.
Aber das offen anzusprechen, ist tausend mal besser als es zu vertuschen.