Für Tjark Kunstreich ist das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation am deutlichsten dort, wo diese am weitesten fortgeschritten zu sein scheint (Bild: atlantapride / flickr / by-sa 2.0)
Tjark Kunstreich veröffentlicht mit "Dialektik der Abweichung" Texte zur Situation von Schwulen und Lesben – ganz ohne queere oder maskulinistische Stammtischparolen.
Von Patsy l'Amour laLove
Bei den aktuellen Stellungnahmen zu Rassismus, etwa beim Kiss-in von Maneo am 17. Mai, oder zur sogenannten Gender-Ideologie wird die geneigte Leserin mit dogmatischen, undifferenzierten Beiträgen geradezu überschüttet. Auf der einen Seite wird schon "Islamophobie" gerufen, wenn eine Demo gegen Homosexuellenfeindlichkeit durch Neukölln organisiert wird, eben weil sie in Neukölln stattfindet. Und auf der anderen Seite spricht man von einer "Islamisierung" und betreibt dabei nicht Religionskritik, sondern hängt einer völkischen Ideologie nach.
Auch auf die rechte Ablehnung des "Genderismus" muss die Antwort nicht lauten, alles klasse zu finden, was die Queer Theory hervorgebracht hat. Und ein kritischer Beitrag zur Queer Theory muss eben nicht mit Homosexuellenfeindlichkeit einhergehen – ganz im Gegenteil.
Tjark Kunstreich präsentiert mit seinem Buch "Dialektik der Abweichung" eine sachkundige und differenzierte Auseinandersetzung, ohne dabei die üblichen queeren wie maskulinistischen Stammtischparolen anzustrengen. Der in der Reihe "konkret texte" erschienene Band vereint Artikel und Vorträge des Wiener Autors, die einen Einblick in die Verhandlung von Homosexualität, Verfolgung und Emanzipation bieten.
Ideologien als solche zu benennen und dabei auch scheinbare Widersprüche offenzulegen, geht nicht so leicht von der Hand, wie das angesprochene affektgeladene Rausposaunen. Gerade darum ist es besonders angenehm, dass Kunstreich es vermag, mit seinen Texten eine Komplexität als solche zu begreifen und dabei spannende und gut leserliche Texte zu verfassen.
Offenes Schwul- und Lesbischsein ist nur scheinbar möglich
Mit dem "Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation", so der Untertitel des Buches, wird die Unsicherheit der Homosexuellen heute aufgegriffen. Neben der noch vorhandenen, direkt sichtbaren Ungleichbehandlung geht es hier um die Unmöglichkeit nur scheinbar ermöglichten offenen Schwul- und Lesbischseins in einer liberaler gewordenen Gesellschaft: "Wo man früher einem gesellschaftlichen Konsens begegnete, der Diskriminierung und Verachtung bedeutete, ist man heute Situationen ausgesetzt, die weniger einschätzbar und von Individuen oder Gruppen, nicht aber von der gesellschaftlichen Situation abhängig sind."
Das Händchenhalten in der Öffentlichkeit ist für Homosexuelle nicht etwa selbstverständlich, sondern potentiell gefährlich. Emanzipation, so Kunstreich, bedeutet in der hiesigen Gesellschaft "immer Assimiliation bis an die Grenze der Selbstaufgabe und darüber hinaus" und gehe "keineswegs mit der ersehnten Anerkennung" einher. Und so findet der Autor das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation am deutlichsten dort, wo diese am weitesten fortgeschritten zu sein scheint.
Viel zu sehr werde, etwa durch Aneinanderreihungen wie LGBTIQ, eine "Mehrheit der Minderheiten" heraufbeschworen, die der tatsächlich vorhandenen Differenz der darin angesprochenen Gruppen nicht standhält. Selbst innerhalb der Schwulen geht diese Gleichmachung angesichts der vorhandenen Differenz nicht auf.
Die "Sehnsucht der Mitte" nach gesellschaftlichem Stillstand
Schlichtes Cover mit rosa Winkel: "Dialektik der Abweichung" ist als 67. Band der Reihe "Konkret Texte" erschienen
Tjark Kunstreich konstatiert eine "Sehnsucht der Mitte" nach dem gesellschaftlichen Stillstand, was er anhand der französischen Kampagne gegen die Homo-Ehe deutlich macht: Die Ermöglichung einer Ehe von Homosexuellen verweise auf die Gemachtheit solcher Institutionen und erschüttere die Vorstellung eines natürlichen Urgrunds der Gesellschaft.
Anhand der Frage der homosexuellen Emanzipation wird auch Michel Foucault als Hoheit der Queer Theory deutlich kritisch hinterfragt: "Foucaults Begriffe sind wie aus Trockeneis, sie machen viel Rauch um nichts." Doch handelt es sich hierbei nicht um einen schlichten Abriss, vielmehr analysiert Kunstreich detailliert die Reportagen Foucaults zur islamischen Revolution im Iran der Jahre 1978 und 1979 und die Reaktionen aus der undogmatischen Linken der Zeit. So erfährt man sowohl von Joschka Fischers Begeisterung für die "Glaubenskraft eines Volkes" als auch von Foucaults Faszination für Religiösität, welche der Autor als die eines Europäers sieht, "der in weißen Bärten Weisheit und in Handarbeit Authentizität erkennt".
In der Kritik steht auch die mittlerweile verbreitete Ansicht, dass die Homosexualität ein westlicher Import in nicht-westliche Länder sei und darum auch keine Aussagen zur Verfolgung getroffen werden sollten. Anhand der Selbstdefinition von Flüchtlingen macht der Autor deutlich, dass die erste Annahme richtig ist, da sich deren Selbstverständnis nicht mit dem deckt, was etwa in Deutschland unter Schwul- und Lesbischsein verstanden wird. Doch ist das Begehren, das der Begriff "Homosexualität" beschreibt, nicht auf den Westen beschränkt – und wird ja nichtsdestotrotz verfolgt. Entsprechend geht es Kunstreich hier um Solidarität und er fragt: "Ist es rassistisch, darüber zu sprechen, oder ist es rassistisch, diese Verhältnisse zu verschweigen?"
Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien
Es sind diese und weitere Denkanstöße und Analysen, die die "Dialektik der Abweichung" zu einem spannenden Buch machen. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit den Verschwörungstheorien um das sogenannte "Pinkwashing" ebenso wie die Rückbindung des Begriffs "Queer" an dessen politische Verwendung zu Zeiten von Act-Up.
Die Artikel erfassen in ihrer relativen Kürze die Komplexität unterschiedlicher historischer sowie aktueller Ereignisse und betten sie in eine gesellschaftskritische Theorie. Dabei erwartet die Leserin hier eine eindrucksvolle Lektüre, die durch klare Worte und Argumentationen verständlich bleibt.
Vortrag von Tjark Kunstreich, gehalten am 15. Oktober 2014 in München
Infos zum Buch
Tjark Kunstreich: Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation. Konkret Texte 67. KVV konkret. Hamburg 2015. 15 €. ISBN 978-3-930786-78-7
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