In einer historischen Stunde versagen die Sozialdemokraten. Das muss nicht sein, meint Micha Schulze in einem Offenen Brief.
Lieber Sigmar Gabriel,
ganz Deutschland diskutiert über die Ehe für alle, nur von Ihnen als Vizekanzler und Vorsitzenden der Sozialdemokraten ist kein einziges Wort zu den Rechten von Lesben und Schwulen zu vernehmen. Fast hat man den Eindruck, die Beschlusslage Ihrer eigenen Partei sei Ihnen peinlich.
Ich weiß, dass die Union der größte Bremser bei der Ehe-Öffnung ist. Aber ich kann noch immer nicht verstehen, dass Ihre SPD in dieser historischen Stunde so komplett versagt. Die Parteispitzen von CDU und CSU sagen uns wenigstens offen, dass sie am Ehe-Verbot für Lesben und Schwule festhalten wollen. Wie ernst es Ihre Partei mit der Gleichstellung meint, bleibt dagegen unklar.
Kampflos das Feld geräumt
Bislang macht Sigmar Gabriel nicht den Eindruck, dass er der Vizekanzler der Lesben und Schwulen sein will (Bild: Bundesregierung/Bergmann)
Die große Mehrheit der Bevölkerung und auch der Medien will die Diskriminierung von Lesben und Schwulen ein für alle Mal beenden, doch Ihre Partei, die im Wahlkampf "100% Gleichstellung nur mit uns" versprochen hat, kuscht trotz Rückenwinds aus Irland vor der bockigen Union und räumt kampflos das Feld.
Dabei könnten sich die Sozialdemokraten gerade jetzt als moderne politische Kraft profilieren und die Union als verstaubte Partei von Vorgestern entlarven. Und zwar bitte nicht nur mit Schaufensteranträgen im Bundesrat, sondern auch dort, wo tatsächlich entschieden wird – im Bundestag! Ohne Rückgrat düften die nächsten Wahlen für die SPD noch viel dramatischer ausfallen!
Natürlich gibt es den Koalitionsvertrag, natürlich die Verpflichtung, nicht mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen – doch was spricht dagegen, nachzuverhandeln? Den Koalitionsvertrag dürfe man "nicht als Bibel betrachten", sagte nicht nur Ihr Vorgänger Gerhard Schröder.
Und wenn der Bundestag ohne Fraktionszwang über Präimplantationsdiagnostik abstimmen konnte, warum dann nicht auch über die Öffnung der Ehe, mit der ja vor allem religiöse Menschen hadern? Merkel wird toben, klar, aber deshalb bestimmt nicht die Koalition platzen lassen. Sie weiß selbst, trotz ihres Unbehagens, dass an der Gleichstellung kein Weg vorbeiführt. Und selbst FDP-Chef Guido Westerwelle hatte es geschafft, Joachim Gauck als Bundespräsidenten gegen den Willen der Kanzlerin zusammen mit der Opposition durchzusetzen.
Mit fiktiven Schlagzeilen zum Ziel
Vielleicht bin ich naiv, vielleicht auch nur am Ende meiner Geduld – aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Deutschland noch in dieser Legislaturperiode Lesben und Schwule zu gleichberechtigten Bürgern macht.
Deshalb hier ein sehr realpolitischer Fahrplan für die nächsten Tage – formuliert in Schlagzeilen, wie wir sie gerne auf queer.de veröffentlichen möchten.
3. Juni 2015:
Ehe für alle: Gabriel beruft Koalitionsausschuss ein
9. Juni 2015:
Koalitionsausschuss: SPD bleibt bei Ehe für alle stur
12. Juni 2015:
Ehe für alle: Gabriel versucht Merkel in Vier-Augen-Gespräch zu überzeugen
14. Juni 2015:
Gruppenantrag zur Ehe-Öffnung im Bundestag eingebracht – SPD-Fraktionschef Oppermann gibt Abstimmung frei
18. Juni 2015:
Bundestag öffnet in erster Lesung die Ehe für Lesben und Schwule – auch mit Stimmen aus der Union
War doch gar nicht so schwierig, oder?
Mit freundlichen Grüßen
Micha Schulze