Pfarrerin Monika Renninger fand bei der Gedenkstunde in Stuttgart deutliche Worte: "Unsere Kirche muss sich der Mitschuld stellen" (Bild: Andreas Zinßer)
Seit 1961 beginnt jeder Evangelische Kirchentag mit einer Gedenkstunde für eine NS-Opfergruppe. In Stuttgart waren am Mittwoch erstmals die Homosexuellen an der Reihe.
Von Andreas Zinßer
Stuttgart im Ausnahmezustand. Unter dem Motto "damit wir klug werden" hat am Mittwoch in der baden-württembergischen Landeshauptstadt der 35. Evangelische Kirchentag begonnen – bis Sonntag stehen rund 2.500 Veranstaltungen auf dem Programm. Während allein am Eröffnungsgottesdienst auf dem Schlossplatz etwa 50.000 Menschen teilnahmen, kamen immerhin rund 1.000 zu einer historischen Gedenkveranstaltung auf dem Karlsplatz.
Direkt neben der ehemaligen Gestapo-Zentrale Württembergs, dem Hotel Silber, gab es eine Premiere: Erstmals wurde ausschließlich der homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Seit 1961 beginnt zwar jeder Evangelische Kirchentag in Deutschland mit einer Gedenkstunde für eine Opfergruppe der Nazis. Es dauerte allerdings 54 Jahre, bis nun erstmals die Homosexuellen an der Reihe waren.
"Was nicht aufgearbeitet ist, wirkt weiter"
Aufsteller erinnern während des Kirchentags an die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich (Bild: Andreas Zinßer)
Kirchentagspräsident Andreas Barner eröffnete die feierliche Gedenkstunde mit wenigen, wohl bedachten Worten: "Was nicht aufgearbeitet ist, wirkt weiter. Vor genau 70 Jahren ging das NS-Regime unter, die Verfolgung gleichgeschlechtlich Liebender aber ging kontinuierlich weiter."
Auch sein Nachredner Joachim Stein, Vorstand von Stuttgarts schwul-lesbischem Zentrum Weissenburg, beklagte die Ausgrenzung und Verfolgung über die Diktatur hinaus und die nur langsame Wandlung der Gesellschaft nach 1969: "Anders zu lieben wird inzwischen toleriert, aber es ist immer noch nicht dasselbe wie die Liebe zwischen Mann und Frau. Das zeigt die neu aufgeflammte Debatte um die Aufnahme des Themas Akzeptanz in den geplanten Bildungsplan."
Stein warf konservativ-kirchlichen Kreisen vor, bis heute nicht wahrhaben zu wollen, dass für schwule Männer im Dritten Reich "ein Liebesbrief an einen Mann, eine zärtliche Geste in der Öffentlichkeit" Verhaftung, KZ-Einweisung oder Tod bedeuten konnte. Mit der verfemten Opfergruppe, die einen rosa Winkel tragen musste, habe nach 1945 keine öffentliche Stelle etwas zu tun haben wollen. Wenn Aufklärung geschehen sei, dann nur durch engagierte Schwule und Lesben. Die Stuttgarter Gedenkveranstaltung zum Kirchentag sei ein kleiner Beitrag dazu, das "Geschehen ins kollektive Gedächtnis zu rufen", lobte Stein.
Mit klaren, weithin vernehmbaren Worten stellten mehrere junge Männer und Frauen die Schicksale der NS-Opfer Karl Zeh, Else, Friedrich Enchelmayer, Karl Geißler, Marie Pünja, Pierre Seel, Hildegard Wiederhöft und Elisabeth Rinck in szenisch wechselnder Ich-Perspektive vor. Diese Biografien bewegten die Menschen auf dem Karlsplatz sichtlich.
Auch beim Interview mit Susanne Enchelmayer-Kieser, Großnichte des von den Nazis ermordeten Opfers gleichen Namens, hielten viele den Atem an. Sie berichtete, dass ihr Großonkel Friedrich in der Familienbibel "ausgestrichen" worden sei. Erst durch die Verlegung eines Stolpersteins in Bad Cannstatt hätten die jungen Angehörigen vom Schicksal des schwulen Großonkels erfahren.
Teilnehmer der Gedenkstunde, darunter Laura Halding-Hoppenheit und Volker Beck (Foto: Andreas Zinßer)
Kein Fortschritt bei der Aufarbeitung
Nach diesen sehr persönlichen Geschichten ging es zur Politik der Gegenwart. Auf der Bühne wurde die Entschließung des Landtags zur Aufarbeitung der Verfolgung von Homosexuellen aus dem Herbst 2014 im Wortlaut vorgetragen und die Abstimmung mit den Besuchern nachgestellt. Obwohl damals wie heute die Abstimmung einstimmig ausfiel, sei die Verwaltung bis heute nicht tätig geworden. Dieses politische Versäumnis wurde sehr passend durch den zur musikalischen Untermalung engagierten Saxofonisten Ekkehard Rössle tonlich dargestellt.
Schließlich betrat Pfarrerin Monika Renninger die Bühne und sprach die wichtigsten, weil deutlichsten Worte des Nachmittags: "Gott sei's geklagt! Nicht wenige finden noch heute Diskriminierung und erfahren Strafverfolgung auf Grund ihrer sexuellen Orientierung. Viele müssen ein Doppelleben führen." Die Pfarrerin forderte: "Unsere Kirche muss sich der Mitschuld stellen! Wir haben uns der Verfolgung nicht entgegengestellt, sondern Sie noch mit betrieben."
Passende Worte fand Renninger auch zur Gegenwart: "Wir müssen uns daher wehren, wenn Menschen bei Diskussionen um die 'Ehe für alle' sich im Ton vergreifen, wenn Homosexuelle gebeten werden, Rücksicht auf konservative Gefühle zu nehmen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass hauptamtliche Bewerber sich verstecken müssen, weil wir sie sonst nicht einstellen."
Aus dem Publikum gab es dafür donnernden Applaus.
Vimeo | Das "Zentrum Regenbogen", ein Netzwerk christlicher LGBT-Gruppen, hat auf dem Stuttgarter Kirchentag ein buntes Veranstaltungsprogramm organisiert
www.welt.de/politik/deutschland/article141857377/Gegner-der-
Homo-Ehe-werden-staerker.html
Also kein Grund, jetzt euphorisch zu werden.