Ungewöhlicher "Infostand" zum Hamburg Pride: Das Interesse der CSD-Besucher am Koran hielt sich allerdings sehr in Grenzen (Bild: Timo Kerßenfischer)
Direkt gegenüber dem CSD-Straßenfest verteilten lächelnde Bartträger den Koran. Unser Leser Timo Kerßenfischer stritt mit ihnen und fragt: Sollte man sie ignorieren oder gegen sie protestieren?
Von Timo Kerßenfischer
Am Wochenende feierten Tausende den Hamburg Pride. Eine tolle Parade, ein rauschendes Straßenfest. Ein starkes Zeichen gegen jede Form von Diskriminierung.
Dass das nicht jedem passt, ist klar. Christlichen Fundamentalisten ebensowenig wie Islamisten. Das sich insbesondere christliche Fundamentalisten hin und wieder auch auf CSDs sehen lassen, ist nicht neu – sie tragen aber in der Regel ein offenes Visier. Es ist leicht, sich ihrer argumentativ zu erwehren.
Eine insofern andere Dimension hat jedoch ein "Infostand" von Salafisten direkt gegenüber eines CSD-Straßenfests. Wer am Samstag vom CSD-Straßenfest auf dem Jungfernstieg zum Hamburger Rathaus ging, musste an einem Büchertisch vorbei, an dem Bärtige prachtvolle Koran-Ausgaben in deutscher Sprache verteilten. Der Stand sah genauso aus wie die der salafistischen "Lies!"-Aktionen, mit der offenbar nicht nur missioniert, sondern auch Kämpfer für den Krieg in Syrien geworben wurden.
Lächelnd gegen die freiheitliche Gesellschaft
Wer da genau am Samstag an diesem Stand in Hamburg steht, wer dahinter steckt, ist natürlich – wie immer – für Passanten nicht transparent. Aus dem Kontext ist die Sache aber ziemlich klar: Da zeigen Salafisten gezielt Präsenz beim Festival der schwul-lesbischen "Sünder", um lächelnd zu provozieren und mehr oder weniger subtil für ihre Weltsicht zu werben.
Diese Weltsicht ist, wie wir wissen, eine Bedrohung für Anders- und Nichtgläubige, für Homosexuelle und Transgender. Wo die Wertvorstellungen von Salafisten gelebt werden, werden die genannten Gruppen verfolgt, oft ist ihr Leben bedroht. Diese Leute nutzen die Rechte einer freiheitlichen Gesellschaft, um sie zu bekämpfen.
Offen zeigen sie das natürlich nicht. Ich wollte von den Herren am Infostand hören, was sie vom Straßenfest gegenüber halten. Nach vielen rhetorisch geschickten Ausweichmanövern machte jener dauerlächelnde Mann, der sprechen durfte, dann klar, dass Homosexuelle nicht Teil des "Schöpfungsplans" seien. Auf meine Anmerkung, dass überall dort, wo die von Salafisten propagierten Wertvorstellungen gelebt würden, Schwule verfolgt, oft mit dem Tode bedroht, ja getötet werden, antwortete er vielsagend und mit weiter freundlicher Miene, Deutschland habe doch zwei Weltkriege begonnen. Whataboutism beherrschen eben nicht nur Putin-Jünger…
Um die Situation zu "entspannen", filmte mein Diskussionspartner und sein Kollege unser Gespräch ununterbrochen.
Unfassbare Provokation, kaum zu ertragende Zumutung
Da stellen sich also Leute dem CSD-Straßenfest gegenüber, die Freiheitsrechte unseres Grundgesetzes missbrauchen, um für eine freiheitsfeindliche Ideologie zu werben, deren Brüder im Geiste für Unfreiheit und Tod von Menschen wie jenen kämpfen, die auf dem Straßenfest ihre Freiheit feiern. (Und wenn man die dauernde Filmerei richtig deutet, werden sich diese islamistischen Aktivisten am Ende für diese erfolgreiche Aktion von ihren "Brüdern" feiern lassen.)
Das ist, bei Lichte betrachtet, eine unfassbare Provokation, eine kaum zu ertragene Zumutung. Die allerdings viele nicht berührt, weil sie so subtil erfolgt.
Die tun doch nichts, entgegneten mir Freunde, die stehen doch da ganz ruhig. Doch. Die sind nämlich nicht zufällig da. Die zeigen ganz bewusst Präsenz. Und stehen nicht nur gegen die Ehe für alle oder Schulaufklärung, sondern gegen alles, was wir erkämpft haben. Gegen unsere Liebe. Gegen unsere Weise zu leben, gegen unser Leben. Sagen sie natürlich nicht.
Die Verantwortlichen des CSD erklärten nicht zu Unrecht, dass ihnen aktuell nichts anderes übrig bleibe, als solche Infostände zu ignorieren. Ich teile ihre Ratlosigkeit. Salafisten wie die am Infostand agieren wahrscheinlich geschickt genug, dass Ordnungsbehörden ihre Präsenz in Innenstädten mit rechtsstaatlichen Mitteln kaum unterbinden können.
So bleiben Fragen: Ist es am Ende alternativlos, sie zu ignorieren? Müssen wir sie vielleicht sogar ignorieren, um ihnen keine zusätzliche Bühne zu bereiten? Oder müssen gerade wir Schwule und Lesben diesen Leuten mit Gegen-Präsenz begegnen? Doch wie kann eine Gegen-Präsenz erfolgen bei Leuten, die im religiösen Wahn leben?
CSD-Besucher singen gegen christliche Fundamentalisten
Gegen-Präsenz erlebten wir am Samstag an anderer Stelle. Auf der Mönckebergstraße, eine Stunde später. Dort predigten fundamentalistische Christen gegen den Unglauben – und gegen Homosexualität. Ein Mann nannte all jene, die nicht an Gott glauben wollen, Sünder und kündigte ihnen Höllenqualen an. Ein glatzköpfiger Muskelmann mit einem zwei Meter großen Holzkreuz erklärte, dass Schwule an Aids verrecken. Ein orthodoxer Russe meinte, Schwule seien vom Dämon besessen. Herrlich absurd – und leicht angreifbar. Ruck-zuck stimmte ein halbes Dutzend sehr junger Schwuler ein Liedchen an: "Wir sind alle homosexuell…".
Bei den christlichen Fanatikern wird das sicher nicht ankommen. Und doch war es schön zu sehen, wie sich der Kreis derer, die sich den religiösen Quatsch nicht gefallen ließen, langsam vergrößerte.
Aber hier ist Widerstand auch einfach. Offen formulierten Worten kann man Worte entgegensetzen. Wie aber wollen, können, sollen wir auf die gezielte Präsenz von Salafisten direkt gegenüber unserem Fest der Vielfalt reagieren?
Sie sprechen nicht offen. Sie agieren subtil. Und wenn man sie öffentlich argumentativ angreift, stößt man womöglich sogar auf die (gut gemeinte) Gegenwehr jener, die die eigentlichen Ziele der für sie nur als engagierte, ja friedlich aufklärende Muslime, nicht als Salafisten wahrgenommenen Religiösen nicht erkennen – und die Kritik an ihnen als Angriff auf die Religionsfreiheit missverstehen. Solche Reaktionen beobachte ich um mich herum, als ich mit den bärtigen Männern stritt.
Wie also soll man auf salafistische "Infostände" reagieren, zumal auf solche, die offenbar bewusst auf ein CSD-Straßenfest zielen?
Worin genau lag jetzt die Provokation?