Ein Ausschnitt aus dem Video zeigt den niederländischen ESC-Beitrag von Douwe Bob, der der Jury offenkundig gut gefällt
Eine Jurorin veröffentlichte ein Periscope-Video vom streng geheimen Abstimmungsprozess.
Der Eurovision Song Contest ist um einen Skandal reicher. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) gab in der Nacht zum Dienstag bekannt, dass sie einen Vorfall mit der russischen Jury untersuchen und am Nachmittag dazu eine nähere Stellungnahme abgeben werde.
Zuvor war bekannt geworden, dass ein Mitglied der Jury mit einem Handy Videoaufnahmen vom Abstimmungsprozess bei Periscope veröffentlicht hatte. Die Jurys aller Teilnehmerländer, in diesem Jahr 42, stimmen zum Finale und den beiden Vorentscheidungen immer einen Tag vor dem TV-Publikum ab, anhand der Auftritte bei einer Generalprobe. Dieses sogenannte "Jury Rehearsal" exakt 24 Stunden vor der eigentlichen Show ist eine von insgesamt drei Proben; es bekommen nur zahlende Zuschauer in der Arena zu sehen sowie per Videoübertragung Journalisten im ESC-Pressezentrum und die Jurys.
Das nun veröffentlichte fast siebenminütige Video zeigt u.a. Teile dieser Fernsehaufnahmen des niederländischen Beitrags – bereits das ist ein Verstoß gegen die Regeln: Während private Aufnahmen aus der Arena erlaubt sind und offizielle Probenvideos erstellt werden, ist die Verbreitung der genauen Choreographie des TV-Bildes vor den Shows strengstens verboten. Auf den Monitoren im ESC-Pressezentrum werden etwa entsprechende Warnungen eingeblendet, Verstöße können zum Verlust der Akkreditierung führen.
Vorläufiges Wahlgeheimnis verletzt
Das russische Jury-Drama bietet aber noch einen weiteren Verstoß gegen die Regeln: Die Ergebnisse dürfen nicht vor der Veröffentlichung durch die EBU nach dem Finale am Samstag bekannt werden. Die zunächst geheime Wahl soll sowohl Druck auf die Jurys zum Finale verhindern als auch eine Beeinflussung des Televotings aller Shows. Das Video hält aber die Reaktion der fünf Jurymitglieder zu einzelnen Songs fest, auch sieht man Notizen wie ein Plus oder Minus auf dem offiziellen Wertungszettel.

Das Video der Sängerin und Schauspielerin Anastasia Stotskaja könnte nun zur Disqualifikation des russischen Jury-Ergebnisses führen oder zu anderen Schritten – das Regelbuch zum ESC verweist an dieser Stelle auf weitere, nicht öffentliche Regelungswerke. Dann könnte auch eine neue umstrittene Regelung zum Tragen kommen, wonach in diesen Fällen nicht allein das Televoting zu 100 Prozent zum Tragen kommt, sondern ein Mittelwert aus den Jurybewertungen anderer Länder als Ersatz genommen wird.
Grund ist das neue Abstimmungsprozedere der Show: Beim Finale geben die Punktevergeber aus den einzelnen Ländern nur das Juryergebnis bekannt, während das Televoting danach zusammengezählt von den Moderatoren verkündet wird . Die zugleich eingekürzte Prozedur soll eine Spannung bis zum letzten Moment ermöglichen.
Russland gilt in diesem Jahr bei den Wettbüros als Favorit, mit einer Disqualifikation des Beitrags wird nicht gerechnet. In den letzten Jahren waren mehrfach Jury-Wertungen wegen statistischer Auffälligkeiten für ungültig erklärt worden, 2015 etwa aus Montenegro und Mazedonien. Weitere Konsequenzen für die Länder hatte das nicht zur Folge.
Abseits von Strafen durch die EBU könnte das Jury-Video aus Russland erneut eine allgemeine Diskussion über den Sinn und Zweck von Jurys entfachen, deren Arbeit sich dem Video nach offensichtlich kaum von einer ESC-Party und Fan-Diskussion unterscheiden lässt – ein Juror scheint zwischenzeitlich gar zu telefonieren, statt die Übertragung zu verfolgen.
Der Show selbst – das erste Halbfinale aus Stockholm wird heute ab 21 Uhr auf Einsfestival ausgestrahlt – kann die zusätzliche PR freilich kaum schaden. Erst am Montag machte man weltweit Schlagzeilen mit der Meldung, dass der amerikanische Popstar Justin Timberlake als Pausenprogramm während des Finales auftreten wird (queer.de berichtete). (nb)
Youtube | Das inzwischen bei Periscope gelöschte Video bei Youtube
Update 18.30h: EBU disqualifiziert Jurorin
Nach "konstruktiven Gesprächen" zwischen der EBU und dem russischen Sender RTR sowie nach Rücksprache mit den unabhängigen Beratern von PwC wurde die Abstimmung der Jurorin, die das Video erstellt hatte, für ungültig erklärt. Die Stimmen der anderen vier Juroren seien gültig, so die EBU in einem Statement; das russische Fernsehen kann für das Finale am Samstag eine neue fünfte Person bestimmen.
Laut EBU sei das Streamen der Jury-Beratungen kein Regelverstoß, solange dadurch keine Ergebnisse publik würden – es sei aber nicht im Sinne des Geistes des Wettbewerbs. Das Statement der Rundfunkunion hält auch fest, dass die TV-Aufnahmen der Dress Rehearsals nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Es ist unklar, ob sich das nur auf das Jury-Video bezieht – am Nachmittag war auch ein kompletter Mitschnitt des russischen Beitrags aus einer Generalprobe auf Youtube aufgetaucht.
Youtube | Der nächste Regelverstoß: Jemand hat das nur für Jurys und Presse bestimmte Livebild vom Auftritt Sergei Lasarews aus einer Generalprobe bei Youtube online gestellt
Die EBU ist ja offenbar viel zu feige, um es sich mit Russland zu verscherzen (aus welchem Grund auch immer). So ist ja auch die in vorauseilendem Gehorsam erlassene Relativierung des Gebrauchs von Regenbogenflaggen zu erklären.
Da Russland ja leider als einer der Favoriten gilt (was hoffentlich verhindert wird), hat man schon jetzt entsprechende Regeln erlassen, damit man dann, falls der ESC in Russland stattfindet und dort Regenbogenflaggen verboten sind, sagen kann, das sei regelkonform und dass es diese Regelung schon vor Russlands Sieg gab...