Dieses Transparent wurde bei einer Demo in München gezeigt, in der die Aktivisten forderten, die Opfer des Paragrafen 175 zu entschädigen (Bild: uranus / flickr / by-sa 2.0)
Ein neues Rechtsgutachten erhöht den Druck auf die Bundesregierung, die deutschen Unrechtsurteile gegen Schwule endlich aufzuheben.
Von Dennis Klein
Vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994 existierte in Deutschland der Paragraf 175. Und noch heute sind alle schwulen Männer, die in der Bundesrepublik aufgrund des "Schwulenparagrafen" verurteilt worden sind, in den Augen des Gesetzes vorbestrafte Verbrecher. Das ist so nicht in Ordnung, heißt es nun in einem von Professor Dr. Martin Burgi erstellten 111-seitigen Rechtsgutachten (PDF), das am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Das Gutachten war von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegeben worden.
Der Rechtswissenschaftler der Uni München kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Zum einen sei es rechtlich möglich, die zehntausenden Urteile gegen Schwule aufzuheben und sie zu entschädigen – zum anderen sei der Staat sogar verpflichtet, die Aufhebung von Urteilen zu überprüfen, die offensichtlich gegen die Grundrechte einer Bevölkerungsgruppe verstoßen.
Das Gutachten dürfte neuen Schwung in die schleppende Debatte um den Paragrafen 175 bringen. Im Jahr 2000 hatte sich der Bundestag in einer einstimmig beschlossenen Resolution für die Schwulenverfolgung entschuldigt. Zwei Jahre später hob die damalige rot-grüne Bundesregierung gegen die Stimmen von Union und FDP die Urteile aus der Nazi-Zeit auf. Alle nach 1945 wegen ihrer Homosexualität verurteilten Männer gelten aber in Deutschland nach wie vor als vorbestraft, obwohl bis 1969 die Nazi-Version des Paragrafen 175 Bestand hatte. Auch Opfer der DDR-Justiz, wo Homosexualität bis 1968 generell unter Strafe stand, sind bis heute nicht rehabilitiert worden.
Klare Antwort zu juristischen Fragen
Historisches Plakat gegen den Unrechtsparagrafen
Gegner der Rehabilitierung nannten als Grund immer wieder, dass die Urteile nach Paragraf 175 in der Bundesrepublik rechtsstaatlich zustande gekommen seien. So lehnte etwa die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 einen Antrag zur Rehabilitierung ab – angeblich aus verfassungsrechtlichen Gründen. Es müsse Rechtssicherheit bestehen und die Gewaltenteilung beachtet werden. In der Bundestagsdebatte erklärte damals der CDU-Rechtsexperte Ansgar Heveling, der Antrag auf Aufhebung aller Urteile sei ein Versuch, "rückwirkend die deutsche Rechtsordnung und damit unsere Rechtsstaatlichkeit" auszuhebeln (queer.de berichtete). Auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags führte vergangenes Jahr "beachtliche verfassungsrechtliche Bedenken" an (queer.de berichtete).
Dieser Argumentation stellt Professor Burgi entgegen, dass der Paragraf 175 gegen das im Grundgesetz festgeschriebene "allgemeine Persönlichkeitsgrundrecht" verstoße – also gegen Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 2 (freie Entfaltung der Persönlichkeit). Rechtsstaatlichkeit bedeute auch, "die Relativität rechtlicher Entscheidungen anzuerkennen", wie Burgi aus einem Kommentar zum Grundgesetz zitiert. Immerhin sei es ein "grob unverhältnismäßiger Eingriff", Schwule wegen ihrer sexuellen Orientierung wegzusperren und ihr Leben lang mit einem "Strafmakel" zu versehen.
Mehr als fraglich sei auch, wie rechtmäßig die Urteile zwischen 1969 und 1994 gewesen seien, so der Professor. Damals galt für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Männern ein höheres Schutzalter als für heterosexuelle Handlungen. Schwule mussten 21 bzw. später 18 Jahre alt sein, während das Schutzalter für heterosexuellen und lesbischen Sex bei 14 Jahren lag. Immerhin sind nach diesem Gesetz in der Bundesrepublik mehrere tausend Männer verurteilt worden.
Bei der Frage, wie die Urteile aufgehoben werden sollten, stellt sich Burgi gegen eine Einzelfallprüfung. Dies sei bei zehntausenden Verurteilungen schwierig, auch weil viele Unterlagen inzwischen nicht mehr vorhanden seien. Im Land Berlin seien etwa alle Urteilsakten aus der Zeit zwischen 1949 und 1969 bereits geschreddert worden.
Schnelle Reaktion der Bundesregierung gefordert
Jörg Litwinschuh, der geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, fordert eine rasche Rehabilitierung (Bild: BMH/Sabine Hauf)
LGBT-Aktivisten fordern nun die Politik zum Handeln auf: "Ich begrüße das Burgi-Gutachten sehr: Die Bundesregierung und der Bundestag haben nun Rechtssicherheit, um handeln zu können", erklärte Jörg Litwinschuh, der Chef der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. "Die Bundesrepublik Deutschland hat 2011 unsere Stiftung errichtet, um dieses Unrecht durch Bildung und Forschung aufzuarbeiten. Professor Burgi zeigt auf, dass für die Aufhebung der bis 1969 gefällten Urteile geradezu eine verfassungsrechtliche Legitimation besteht. Der Staat hat gegenüber den Betroffenen schwulen Opfern einen Rehabilitierungsauftrag."
Auch der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) fordert eine schnelle Reaktion aus Berlin. "Das Gutachten macht deutlich: Die Bundesregierung kann sich nicht länger hinter Scheinargumenten verstecken, wonach eine Aufhebung der Urteile rechtlich nicht möglich wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Der Rechtsstaat zeigt gerade dann seine Stärke, wenn er so souverän ist, seine Fehler zu korrigieren", erklärte LSVD-Sprecher Axel Hochrein. "Die Beseitigung dieses Unrechts, das im Namen der Bundesrepublik Deutschland erfolgte, muss noch in dieser Legislaturperiode geschehen."
Christine Lüders, die Chefin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, erklärte bei der Vorstellung des Burgi-Gutachtens, das Papier arbeite erstmals ausdrücklich heraus, "dass der Gesetzgeber die Opfer der Strafverfolgung nicht nur rehabilitieren kann, sondern sogar muss". Lüders weiter: "Die mehr als 50.000 Opfer sind durch Verfolgung und Verurteilung im Kernbestand ihrer Menschenwürde verletzt worden. Sie müssen es ertragen, dass die Urteile gegen sie dennoch nie aufgehoben wurden. Diese Ungerechtigkeit darf der Gesetzgeber nicht länger hinnehmen."
In den letzten Jahren gab es immer wieder Bestrebungen, die Urteile aufzuheben – im letzten Jahr forderte etwa der Bundesrat eine Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175 (queer.de berichtete). Auch in der Union gibt es inzwischen viele Befürworter dieses Kurses – seit Jahren setzt sich etwa die hessische CDU-Justizministerin Eva Kühne-Hörmann für die Rehabilitierung ein. Dabei drängt die Zeit: Die Opfer des Paragrafen 175 sind bereits in einem sehr fortgeschrittenen Alter. Trödelt die Bundesregierung weiterhin, werden die meisten Verurteilten als vorbestrafte Verbrecher sterben.
KampagnenwebsiteDie Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren hat zum Thema eine neue Webseite
"Offene Rechnung" mit Informationen und Forderungen erstellt und hofft auch auf
Facebook auf Unterstützung.
Aber die SPD wird wie immer NICHTS machen, so wie auch bei der Eheöffnung.
Wer SPD wählt, wird halt verarscht.
Besser die Grünen oder die FDP wählen.