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Land der Gegensätze: Einerseits feiert Brasilien in São Paulo eine der größten Pride-Paraden der Welt, andererseits geschieht laut der "Grupo Gay do Bahia" 44 Prozent der weltweiten Gewalt gegen queere Menschen in dem südamerikanischen Multi-Kulti-Staat (Bild: flickr / Ben Tavener / by 2.0)
- 16. Mai 2016, 11:23h 5 Min.
Brasilien war immer ein Land der extremen Gegensätze. Doch mit der Suspendierung von Präsidentin Dilma Rousseff droht sich die Lage für queere Menschen zu verschlechtern. Eine Reportage.
Von Mariana Bittermann
Über der Rezeption der "Transgrupo Marcela Prado" hängt ein Banner. "Mehr Trans*-Männer an Universitäten!" steht als Forderung neben dem Bild eines Studenten. Daneben sind Fotos und Namen von anderen Trans*-Menschen abgebildet, zusammen mit ihrem Studiengang. Das Banner ist auch dazu da, Hoffnung zu geben und Stigma aufzubrechen, denn in einem Land, in dem sich 90 Prozent der Trans*-Frauen prostituieren müssen, gilt jeder Trans*-Mensch, der es an eine Universität geschafft hat, als Erfolg für die Szene.
"Der Arbeitsmarkt ist für Trans*-Frauen quasi komplett geschlossen", erklärt "Transgrupo"-Präsidentin Rafaelly Wiest. "Oft schaffen sie nicht einmal einen Schulabschluss, weil es sehr viel Diskriminierung seitens der Mitschüler und der Lehrer gibt."
Sie selber hat die Schule auch abgebrochen, konnte aber eine Ausbildung zur Konditorin anfangen. "Ich fühle mich dankbar, denn ich hatte in meinem Leben viel Glück. Meine Eltern haben mich weder geschlagen noch aus dem Haus geworfen, und ich habe mich auch nur ein Jahr lang neben meiner Ausbildung prostituieren müssen." Sie selber habe auch nie Gewalt erfahren, als sie als Sexarbeiterin tätig war "Das liegt aber auch daran, dass ich nie auf der Straße leben musste. Hier höre ich quasi täglich neue Geschichten von Mädchen, denen Gewalt angetan wurde."
Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Prostitution und Drogensucht

"Transgrupo"-Präsidentin Rafaelly Wiest
Die Zahlen sprechen für sich. Allein in den ersten 66 Tagen dieses Jahres sind 78 Trans*-Frauen in Brasilien ermordet worden. "Die Eltern der ermordeten Trans*-Frauen tun häufig so, als hätten sie nie ein Kind gehabt, wenn sie von der Ermordung erfahren, so sehr lehnen sie die Transsexualität ihres Kindes ab." Den Grund für die hohen Mordraten in Brasilien sieht Rafaelly in dem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Prostitution und Drogensucht sowie der hohen Gewalt gegen Obdachlose. "Erst letzten Sonntag ist in der Nähe meines Hauses eine obdachlose Familie erschossen worden, weil sich ein Anwohner an ihrem Anblick gestört hat."
Zumindest in den Großstädten ist in den letzten Jahren aber ein immer besseres Netzwerk aus Nichtregierungsorganisationen entstanden, die Trans*-Menschen unterstützen. Immer mehr Freiwillige begleiten zum Beispiel Trans*-Menschen bei Behördengängen, damit ihre Rechte auch wirklich berücksichtigt werden. Im Stich gelassen fühlt sich Rafaelly allerdings von der Legislative, also dem Nationalkongress. "Es macht keinen Sinn, Brasilien um etwas zu bitten. Die Legislative ist gegen uns."
2013 wurde die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet
Toni Reis, Präsident der benachbarten Organisation "Grupo Dignidade" und einer der aktivsten Homorechtsaktivisten Brasiliens, hat damit seine ganz eigenen Erfahrungen gesammelt. In England heiratete er den Briten David Harrad, der ihn mit einem Touristenvisum nach Brasilien begleitete. Als David nach Ablauf des Visums die Abschiebung drohte, wendete sich Toni mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit und klagte gleichzeitig darauf, dass seine Ehe legitimiert werden solle.
Besondere Schlagzeilen machte dabei Tonis verwitwete Mutter. Während seiner Pubertät tat sie alles Mögliche, um ihn von der "Krankheit des Homosexualismus" zu heilen, aber inzwischen unterstützte sie ihren Sohn so sehr, dass sie sogar anbot, David zu heiraten, um ihm ein Bleiben zu ermöglichen.

Toni Reis, seine Ehemann und seine drei Kindern bei der Feier zur Silberhochzeit
Dieser Schritt war im Endeffekt nicht notwendig, denn am 25. November 2013 erkannte das Gericht Tonis und Davids Ehe offiziell an und ermöglichte damit das Aufenthaltsrecht auch für gleichgeschlechtliche Ehepartner. Seit 2013 ist die Ehe in Brasilien offen für alle. "Keine dieser positiven Veränderungen ging aber vom Nationalkongress aus", erklärt auch Toni. "Die größte Opposition gegen die queere Szene bilden fundamentalen Christen, und diese haben in den letzten Jahre immer mehr Sitze gewonnen."
Homophobe Fundamentalisten gewinnen an Einfluss
Einer dieser Fundamentalisten ist Jair Bolsonaro. Der Abgeordnete würde gerne eine heterosexuelle Pride-Parade und ein Gesetz gegen die Diskriminierung von Heterosexuellen etablieren. International wurde er durch sein Interview mit Stephen Fry in dessen Dokumentation "Out There" bekannt, in dem er die Existenz von homophober Gewalt in Brasilien verleugnete und verkündete, dass kein brasilianischer Vater jemals Stolz auf einen schwulen Sohn wäre. Er gewann nicht nur die meisten Stimmen bei den Wahlen in Rio de Janeiro, sondern ist momentan auch Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2018.
Auch homophob und ein fundamentaler Christ ist der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha, eine der treibenden Kräfte hinter dem Amtenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Die eine Hälfte des Landes hält die sechsmonatige Suspendierung für berechtigt, da Rousseffs Partei in Korruptionsskandale verwickelt ist, und Telefongespräche an die Öffentlichkeit drangen, in denen Rousseff dem ehemaligen Präsidenten Lula da Silva einen Ministerposten anbietet, damit er Immunität gegen die Ermittlungen genießt. Die Telefongespräche seien nicht eindeutig interpretierbar, behauptet die andere Seite, und generell sei das Amtsenthebungsverfahren eher ein Staatsstreich, um Rousseff und ihre sozial ausgerichtete Arbeiterpartei zu entmachten. Immerhin wird momentan gegen etwa 60 Prozent aller Kongressabgeordneten und Senatoren ermittelt, nicht nur gegen Mitglieder der Arbeiterpartei.
"Ich kann natürlich nicht für alle sprechen, aber ein großer Teil der queeren Szene ist gegen die Suspendierung", erklärt Rafaelly. "Unter Rousseffs Regierung gab es immer weniger Armut und Hunger, und die Alternativen zu ihrer Partei sind für uns noch viel schlimmer."
Auch Carlos Magno Fonseca, der Präsident des größten Netzwerks queerer Organisationen in Brasilien, sieht die Sache ähnlich. Gegenüber der "Huffington Post" nannte er das Amtsenthebungsverfahren eine "große Gefahr" für queere Brasilianer.
Interimspräsident Michel Temer fordert "mehr Religiosiät"
Die Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen: Der am 12. Mai berufene Interimspräsident Michel Temer hat seine Regierung zur Amtseinführung zu "mehr Religiosität" aufgerufen. "Frauen und Schwarze sucht man in Temers Kabinett vergeblich, die Multikulti-Nation wird jetzt von einer Truppe alter weißer Männer regiert", schreibt "Spiegel Online" über den Machtwechsel in Brasilien.
"Ich bin aber trotz allem optimistisch, was unsere Zukunft angeht", meint Toni Reis, "In den letzten Jahren hat sich schon sehr viel bewegt. Ich denke, dass es einige faschistische Zellen in unserer Gesellschaft gibt, aber wir können das gemeinsam überwinden."
Rafaelly stattdessen möchte so bald wie möglich nach Kanada auswandern: "Ich sehe keine Zukunft für mich in diesem Land."















Die Gefahr für Schwule und Lesben geht heute von den evangelikalen Sekten us-amerikanischen Ursprungs aus. Sie machen heute schon ca. ein Viertel der Bevölkerung aus. Hinzu kommen ca 1 1/2 Millionen Zeugen Jehovas.
Ob Rousseff Präsidentin ist oder jemand anders, es wird sich nur wenig auf die Situation von Schwulen, Trans und Lesben auswirken.