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Everhardt Franßen als Richter in Karlsruhe 1989 (Bild: Bundesarchiv / Engelbert Reineke, by sa 3.0)

  • 27. Mai 2016, 03:34h 70 4 Min.

Everhardt Franßen rechtfertigt in der FAZ die Verfolgung schwuler Männer nach 1945 mit den damaligen "sittlichen Anschauungen des Volkes".

Die Vergangenheitsbewältigung der deutschen Nachkriegsjustiz und -politik stockt weiter, bevor sie überhaupt begonnen hat. In einem Gastbeitrag hat der frühere Bundesverfassungsrichter Dr. Everhardt Franßen am Mittwoch in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Bestätigung des Paragrafen 175, der einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Männern unter Strafe stellte, durch das Bundesverfassungsgericht 1957 gerechtfertigt.

Er reagierte damit auf Äußerungen von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der vor zwei Wochen einen Gesetzentwurf zur Rehabilitierung der Männer angekündigt hat, die aufgrund des Paragrafen 175 verurteilt wurden (queer.de berichtete). Nur wenige Stunden zuvor hatte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein Gutachten vorgestellt, wonach diese Rehabilitierung, wie sei bei Verfolgten des Paragrafen aus der Nazi-Zeit bereits geschehen ist, rechtlich möglich und sogar geboten sei (queer.de berichtete).

Maas teilte öffentlich mit, dass der Paragraf "von Anfang an verfassungswidrig" gewesen sei und die darauf gestützten Urteile "jeden Verurteilten zutiefst in seiner Menschenwürde" verletzte hätten. Auf diese Äußerungen stürzte sich nun der damals von der SPD ernannte Bundesverfassungsrichter.

Christliches Sittenempfinden als rechtmäßige Verfolgungsgrundlage


Nachdem er gut zwei Jahre lang die Frage der Rehabilitierung prüfen ließ, kündigte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) vor zwei Wochen unter Druck einen Gesetzentwurf an. Neben der Union überraschte er damit wohl auch die Justiz. (Bild: Stefan Mey)

Unter der Überschrift "Nicht von Anfang an rechtswidrig" amüsiert sich Franßen geradezu über die Zitate von Maas zu den damaligen Urteilen und relativiert damit das begangene Unrecht: "Offenbar haben, so muss man wohl folgern, die Gerichte, welche diese fällten, sehenden Auges schwerste Grundrechtsverletzungen begangen und in ihrem Verfolgungseifer die Menschenwürde als oberstes Schutzgut der Verfassung nachhaltig missachtet."

In Folge verteidigt Franßen, der von 1987 bis 1991 Richter in Karlsruhe und danach bis 2002 Präsident des Bundes­verwaltungs­gerichts war, das Bundes­verfassungs­gericht, das 1957 den Paragrafen bestätigt hatte. Franßen wiederholt die damalige Abwägung Karlsruhes, wonach nach Artikel zwei, Absatz eins des Grundgesetzes das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit unter anderem durch das Sittengesetz eingeschränkt werde.

Franßen wiederholt in diesem Zusammenhang aus dem Urteil, dass "die öffentlichen Religionsgesellschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Kirchen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleich­geschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen". Der Staat könne sich zur Rechtfertigung der Bestrafung auf die "sittlichen Anschauungen des Volkes berufen".

- w -

Bonn schuld, nicht Karlsruhe


Mit dem Paragrafen 175 in der Nazi-Fassung wurden in der Budesrepublik bis zu einer Reform 1969 jährlich mehrere tausend Männer verurteilt; danach folgten hunderte pro Jahr bis 1994, als noch 44 Männer verurteilt wurden

In Deutschland sei Homosexualität "sittlich missbilligt" gewesen, so Franßen: "Dass das Bundes­verfassungs­gericht in Bezug auf die Homosexualität die im Jahre 1957 herrschenden Anschauungen und Wertungen korrekt wiedergegeben hat, wird man schwerlich bestreiten können." Das Gericht habe daher im Sinne des Grundgesetzes nicht anders urteilen können – zumal es nicht habe ahnen können, ob etwas, was heute "als unsittlich verworfen wird, morgen schon als sittlich und damit als besonders schützenswert angesehen werden kann".

Die Entscheidung könne aus heutiger Sicht ihre "Bindungswirkung verloren haben", so Franßen, sei deswegen aber kein Verstoß gegen die Verfassung gewesen. Er verweist auch darauf, dass der Gesetzgeber jederzeit die Strafbarkeit hätte aufheben können.

Der Ex-Verfassungsrichter erklärt weiter, dass man eine kollektive Aufhebung der Verurteilungen durchaus mit dem Argument rechtfertigen könne, dass diese "unter heutiger Bewertung einen rechtlich nicht mehr zulässigen, besonders intensiven Eingriff in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts der Betroffenen enthalten". Auch sei die Aufrechterhaltung "mit einer unverdienten Kränkung der Betroffenen verbunden".

Er schließt aber seine Ausführungen mit der Aussage: "Die weit darüber hinausgehende Argumentation des Bundesjustizministers ist dagegen nur geeignet, sowohl politischen wie auch rechtlichen Widerstand gegen eine solche Maßnahme hervorzurufen; sie kann damit im Blick auf das von ihm angestrebte Ziel nur kontraproduktiv wirken."

Vielleicht sind aber auch die Äußerungen Franßens kontraproduktiv: Wenn das derzeitige Grundgesetz nicht ausreicht, die Menschenwürde und Freiheit schwuler Männer dauerhaft zu sichern – Sittenansichten können sich schließlich ändern – wird darüber zu diskutieren sein, ob die entsprechende Passage in Artikel 2 einer Änderung bedarf oder ob die Merkmale "sexuelle Orientierung" und "sexuelle Identität" endlich in den Schutzbereich des Diskriminierungsschutzes aus Artikel 3 aufgenommen werden sollten. Die SPD hatte das vor der letzten Bundestagswahl versprochen, Heiko Maas als neuer Justizminister dann aber als unnötig abgelehnt. (nb)

15.07.25 | Autor von "Danke, Gustav!"
Harm-Peter Dietrich ist tot
17.06.25 | Von der Gestapo verhaftet, in der Bundesrepublik ermordet
Einer von uns: Der Fall Ludwig Meyer
-w-

#1 goddamn liberalAnonym
  • 27.05.2016, 06:03h
  • Jeder stellt sich in die Tradition, die zu ihm passt.

    Die deutsche Justiz war in ihrer Entrechtung- und Vernichtungsmanie seit jeher ein Vorreiter auf deutschen Sonderwegen.

    Man darf ja nicht übersehen:

    Schon 1949, bei Gründung der BRD, war einfache Homosexualität in ALLEN westlichen Nachbarländern (Schweiz, Frankreich, Benelux, Dänemark) straffrei. In Polen übigens auch.

    Geschweige denn, dass es einen von Nazis verfasste Homosexuellenparagrafen gegeben hätte.

    Der Herr, dem wir die Pension bezahlen dürfen, wurde übrigens auf Vorschlag der SPD Verfassungsrichter.

    Deutsches Elend in Reinkultur.
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#2 SebiAnonym
  • 27.05.2016, 07:24h
  • 1. Unrecht wird nicht zu Recht, nur weil "das Volk" diesem Unrecht mehrheitlich zustimmt. Das sollte man gerade in Deutschland wissen.

    2. Die Meinung des Volkes wird ja auch ganz maßgeblich durch den Gesetzgeber und die Justiz geprägt. Damals noch mehr als heute, weil es damals viel weniger Möglichkeiten gab, sich wirklich unabhängig zu informieren.

    3. Grundrechte und das demokratische Gleichheitsprinzip gelten unabhängig von religiösen Anschauungen des Volkes. Auch von 1945 - 1993 war Deutschland kein Gottesstaat, sondern eine Demokratie. Aber der §175 verstieß sowohl gegen demokratische Grundrechte als auch gegen das demokratische Gleichheitsprinzip.
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#3 HeinerAnonym
  • 27.05.2016, 07:44h
  • >>>>>>>>>>
    die Merkmale "sexuelle Orientierung" und "sexuelle Identität" endlich in den Schutzbereich des Diskriminierungsschutzes aus Artikel 3 aufgenommen werden. Die SPD hatte das vor der letzten Bundestagswahl versprochen, Heiko Maas als neuer Justizminister dann aber als unnötig abgelehnt.
    <<<<<<<<<<

    Tja, versprechen tut die SPD viel. Nur dass aus dem Reden niemals ein Handeln wird.

    Und der Bundes-Ankündigungs-Minister Heiko Maas wird doch sogar in seiner Partei schon "Merkels Pudel" genannt, weil er zwar immer einen auf großer Tiger macht, dann aber doch als ganz zahmer Bettvorleger landet.

    Auch seine Ankündigung, jetzt endlich alle Opfer des § 175 (bis 1994) zu rehabilitieren und zu entschädigen, ist doch nur wieder mal Gelaber dieses Wichtigtuers, dem eh keine Taten folgen werden.
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