Mit diesem Beitrag von Martin Sommer beginnen wir eine Debattenserie über die Zukunft der LGBT-Bewegung. Unser Aufmacherbild zeigt einen Protest gegen "Integrationsterror" auf dem Transgenialen Berliner CSD 2010 (Bild: flickr / Mike / by 2.0)
Ganz egal wie sehr Schwule und Lesben auf lieb, brav und sauber machen – die Vorurteile und der Hass nehmen nicht ab. Höchte Zeit, uns nicht länger zu verstellen.
Von Martin Sommer
Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen zeigen: Wir sind längst nicht so weit wie viele geglaubt haben. Wir sind keineswegs ein so selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft, keineswegs so akzeptiert, schon gar nicht respektiert, wie einige hofften. Ob Berlin, Köln, Rostock oder Saarbrücken, ob Paris, Kopenhagen oder Orlando: Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender schlägt immer mehr Hass entgegen.
Das ganze Betteln der letzten Jahre um Zuneigung und Toleranz hat offenbar nicht gefruchtet. Ja, es gab mit Westerwelle und Wowereit auch offen schwule Regierungsmitglieder und neulich im "Tatort" sogar eine schwule Sex-Szene – geändert hat das nichts. Nichts an dem Hass eines großen Teils der bürgerlichen Gesellschaft. Nichts an den Problemen, denen gerade junge Lesben, Schwule oder Transgender ausgesetzt sind.
Dass das Selbstmordrisiko junger Homosexueller bis zu siebenmal höher ist als das der Jugendlichen insgesamt, dass sechs von zehn befragten jungen Schwulen und Lesben schon an Selbstmord gedacht und 18 Prozent bereits einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich haben, ist einfach empörend und kann niemanden kalt lassen.
Die Mehrheit akzeptiert keine Abweichung von der Norm
Martin Sommer, 40, lebt in Saarbrücken, ist seit zehn Jahren verpartnert und arbeitete als freier Journalist bereits für "Queer", "Männer", "Du & Ich" und verschiedene andere Medien. Zurzeit ist er stellvertretender Pressesprecher der Fraktion Die Linke im Saarländischen Landtag
Wir können noch so lieb Männchen (oder Frauchen) machen: Die bürgerliche Gesellschaft akzeptiert in ihrer Mehrheit keine Abweichung von der Norm. Und die Norm ist weiß, heterosexuell, christlich, männlich. Das hat die Studie "Die enthemmte Mitte" jetzt wieder bestätigt. 40 Prozent der Befragten sagen, es sei "ekelhaft", wenn sich Schwule und Lesben in der Öffentlichkeit küssen. Fast jeder Vierte findet Homosexualität unmoralisch. Mehr als ein Drittel will nicht, dass Ehen zwischen zwei Frauen oder zwei Männern erlaubt sind. Und das sind nicht alles Wähler von AfD, CSU und CDU. Nein, auch 43,4 Prozent der SPD-Wähler, 30,2 Prozent der Linke-Wähler und 23,5 Prozent der Grünen-Wähler schüttelt es, wenn sich Schwule oder Lesben knutschen.
Andere Untersuchungen belegen, dass Mobbing und Hass für Schwule und Lesben in ganz Europa zum Alltag gehören. In einer EU-weiten Studie vor drei Jahren gab fast die Hälfte der Befragten an, im vergangenen Jahr eine Diskriminierung wegen ihrer sexuellen Orientierung erlebt zu haben. Rund jeder vierte Teilnehmer berichtete, in den vergangenen fünf Jahren Opfer tätlicher Angriffe oder von Gewaltandrohungen geworden zu sein.
Der Hass gegen uns ist allgegenwärtig
Die furchtbare Tat von Orlando hat gezeigt, dass der Hass gegen uns allgegenwärtig ist – und jederzeit und überall brutal zuschlagen kann. Wenn irgendwo Menschen getötet werden, nur weil sie homosexuell sind, dann trifft diese Tat uns alle. Und wir alle gemeinsam müssen darauf reagieren.
Der Angriff auf den queeren Club "Pulse" hat auch deutlich gemacht, dass wir nicht wirklich mit großer Unterstützung der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft rechnen können. Denn die ging in Deutschland schnell wieder zur Tagesordnung über. "Bild", das Zentralorgan des "gesunden deutschen Volksempfindens", das bei Terror-Akten sonst die ersten drei Seiten räumt, berichtete zwar, aber erst im Mittelteil noch nach den Witzen. Und nachdem klar wurde, dass der Anschlag nicht in das "übliche" Raster passt und nicht ausschließlich mit der islamischen Religion des Attentäters zu begründen war, berichteten auch die meisten anderen bürgerlichen Medien nur noch kurz. Und in keinem Vergleich zu den riesigen Reportagen, "Analysen" und Geschichten, die bei anderen furchtbaren Terror-Akten, die in der westlichen Welt passieren, tagelang die Seiten füllen.
Die Meldung, dass der Attentäter vielleicht selbst homosexuell war, verbreitete sich dann schon stärker – als würde das irgendetwas ändern. Als wäre die Tat dadurch weniger tragisch. Ein Ding unter Schwulen halt. Als würde nicht auch bei anderen Gewalttätern der Hass auf einen Teil von sich selbst eine Rolle spielen. Als wären nicht auch einige der islamistischen Terroristen in der Vergangenheit genau Teil der westlichen kommerzialisierten Welt gewesen, die sie mit ihren Anschlägen treffen wollten. Tatsache ist, dass 49 junge Menschen, die einfach nur feiern wollten, brutal ermordet worden sind, weil sie schwul oder lesbisch waren.
Wir stellen traditionelle Rollenbilder auf den Kopf
Die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft hält an ihren Vorurteilen und ihrem Hass gegen alles, was anders ist, fest, obwohl es mittlerweile so viele Vorbilder gibt, die selbstbewusst, selbstverständlich und klischeefrei schwul, lesbisch, bi oder transgender leben – prominente Homos ebenso wie der schwule Kicker im Amateurverein oder die lesbische Hausärztin. Wir verstecken uns nicht mehr, wir sind sichtbar – und trotzdem finden viele Heteros es eklig, wenn wir lieben, küssen, Sex haben oder feiern. Selbst dann wenn wir unsere CSD's "wegen der Familien" möglichst im "Disney"-Stil jugendfrei und sauber organisieren. Trotzdem bekommt die Kanzlerin Bauchschmerzen, wenn es darum geht, uns gleiche Rechte einzuräumen. Im Umkehrschluss heißt das: Wir müssen uns nicht verstellen, denn ganz egal, wie sehr wir auf lieb, brav und sauber machen, die Vorurteile nehmen nicht ab.
Vielleicht schlägt uns deshalb so viel Hass entgegen, weil wir die traditionellen Rollenbilder per se auf den Kopf stellen, an denen viele scheinbar immer noch hängen. Deshalb demonstrieren ja selbsternannte "besorgte Eltern" gegen Sexualaufklärung an Schulen und warnen von einer "Sexualisierung", ja "Verschwulung" der Kinder. Und deshalb hetzt "Bild" gegen "Gender-Wahnsinn" und schreibt, dass er "unseren Blick dafür, was von Natur aus wahr ist" zerstört. "Von Natur aus wahr" – das kennen wir alle – ist nach dieser Dumpf-Lehre demnach nur die bürgerliche Familie mit Vater, Mutter und mindestens zwei Kindern.
Vielleicht hält die Mehrheitsgesellschaft auch deshalb an ihren Vorurteilen fest, weil wir auch andere Beziehungsmodelle vorleben – schließlich hat vielen Studie zufolge die Mehrheit der schwulen Paare ihre Beziehung in irgendeiner Form geöffnet und nur eine Minderheit lebt sexuell exklusiv.
Die LGBT-Szene ist auf dem Rückzug

Vor allem aber ist die Community heute alles andere als eine einige, schlagkräftige Gemeinschaftsbewegung. In den Großstädten, in Berlin, Köln, Hamburg und München, mag die Situation besser sein, in der deutschen Provinz ist sie es nicht. Und überall ist die LGBT-Szene auf dem Rückzug. In München etwa gab es in den Achtzigerjahren noch rund 50 schwule Kneipen, heute sind es nur noch etwa 15. Gab es in einer Stadt wie Saarbrücken vor wenigen Jahren noch sieben Gay-Bars, sind heute nur noch zwei übrig geblieben. In vielen kleineren Städten gibt es gar keine Anlaufstelle mehr. Damit verliert homosexuelles Leben in der Provinz auch wieder an Sichtbarkeit.
Daran sind wir Homos größtenteils selber schuld. In Zeiten des schnellen Dates per Internet oder Smartphone-App haben viele vergessen, wie wichtig Offline-Rückzugsräume sein können. Bars, Clubs und Partys, in denen wir frei und offen Homos sein können, wo ein Mann mit anderen Männern flirten kann und eine Frau andere Frauen küssen kann, ohne sich vorher vergewissern zu müssen, ob das irgendeinen Hetero in der Nähe stören könnte. Wie wichtig Solidarität und Gemeinschaftsgefühl sind, statt Vereinzelung.
Die schreckliche Tat in Orlando hat weltweit Schwule und Lesben zusammenrücken lassen. Auch überall in Deutschland gab es Mahnwachen, und viele Homos haben nun das Bedürfnis, gemeinsam zu reagieren. Darauf können wir aufbauen. Denn wir müssen uns in der Not gegenseitig helfen. Auf die Hetero-Mehrheitsgesellschaft können wir da nicht warten.
"Liebe, Sex und Widerstand", das Motto des diesjährigen CSD Darmstadt, wäre die passende Überschrift dafür. Denn wir brauchen mehr Liebe, mehr Sex, mehr Widerstand!
Völlig realitätsfern. Die Schwulen über 35 in diesem Land sind ja gerade NICHT angepasst. Wären sie es würde die Situation ganz anders aussehen. Aber Hauptsache sich einreden dass man ja sowieso nur unterdrückt wird um dann auf pseudo revolutionär zu machen.