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Eine der ersten Festnahmen des Tages zum Istanbul Pride, bis zum späten Abend waren rund 30 Personen in Polizeigewahrsam
- 26. Juni 2016, 13:55h 4 Min.
Nach dem Verbot des Pride gingen die Beamten mit Tränengas und Gummigeschossen gegen LGBT vor, die sich dennoch in der Innenstadt versammelten, darunter Volker Beck und weitere Grünenpolitiker. Auch am Abend ging die Polizeigewalt weiter.
Von Norbert Blech
Nach der Niederschlagung des "Trans* Pride" in der Vorwoche hat die Polizei Instanbuls am Sonntag auch die eigentliche CSD-Demonstration zum Abschluss der Pride Week verhindert. Der "Marsch des Stolzes", der 2014 noch über hunderttausend Menschen versammelte, war vor einer Woche vom Gouverneur mit Verweis auf Sicherheitsbedenken verboten worden.

Die Organisatoren des CSD hatten die Demonstration in Folge in dieser Woche abgesagt – zugleich aber LGBT dazu aufgerufen, sich zum vorgesehenen Demonstrationszeitpunkt in der Innenstadt zu "verteilen". Sie griffen damit eine Formulierung der Polizei auf, mit der Beamte in der letzten Woche über Lautsprecher den Trans-Pride beendeten – danach waren sie mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Teilnehmer vorgegangen (queer.de berichtete).
Auch an diesem Sonntag zeigte die Polizei mit Mannschaftswagen und Wasserwerfern eine starke Präsenz in der Innenstadt. Kurz nach 15 Uhr deutscher Zeit, eine Stunde vor dem ursprünglich vorgesehenen Beginn des Prides, nahm die Polizei nach Angaben von kaos.gl vier LGBT-Aktivisten fest. Kurz vor 16 Uhr wurden erneut mehrere Personen festgenommen, darunter auch die deutsche Europaabgeordnete Terry Reintke und der Bundestagsabgeordnete Volker Beck.

Anders als türkische Aktivisten wurden die Grünenpolitiker schnell wieder freigelassen. Reintkes Büroleiter Felix Banaszak, der auch Vorsitzender der Duisburger Grünen ist, und Max Lucks von der Grünen Jugend NRW wurden allerdings ebenfalls festgenommen und zunächst nicht freigellassen.
Entfesselter Polizeieinsatz
Um 16.20 Uhr deutscher Zeit folgten die ersten Berichte über Einsätze von Tränengas und Gummigeschossen durch die Polizei an gleich mehreren Orten der Innenstadt. Ein Live-Video auf Facebook zeigte zugleich, wie Aktivisten aus einer Wohnung heraus Regenbogenflaggen hielten und Pride-Forderungen verlasen. Auch an anderen Stellen der Innenstadt, etwa vielen Cafés, versammelten sich LGBT und wurden teilweise von der Polizei vertrieben oder festgenommen.
Yasaklara rağmen #Pride2016'yı kutlamakta ısrar eden yurttaşlara Süslü Saksı Sk'ta polis böyle müdahale etti: pic.twitter.com/CYeBee3IYc
— dokuz8 (@dokuz8haber) June 26, 2016
Gegen 17 Uhr hieß es, bislang seien insgesamt rund 15 Personen festgenommen worden, später wurde die Zahl auf 19 erhöht. Bis ca. 19 Uhr hielten die Polizeiaktionen in der Innenstadt an, auch waren die deutschen Aktivisten laut Reintke weiter in Gewahrsam. "Ich habe noch nie so aggressive Polizei erlebt", sagte sie dem WDR. Bilder auf Twitter zeigten eine durch eine Rauchbombe der Polizei im Gesicht und im Auge verletzte Person.

Polizei geht gegen #IstanbulPride / #OnurYürüyüşü vor und versucht @Volker_Beck & @GonulEglence festzunehmen pic.twitter.com/YBMQAKXRf4
— Ismail Küpeli (@ismail_kupeli) June 26, 2016
An mehreren Stellen der Innenstadt hatten Aktivisten dennoch die Presseerklärung des CSD verlesen können. "Der Stolz über unsere Existenz wächst mit jeder Unterdrückung", heißt es darin. "Wir werden ermordet und wiedergeboren in Istanbul, Ankara, Izmir, Antep, Diyarbakır, Mexiko, Bangladesch und Orlando. Wir werden immer existieren, unsere Existenz ausrufen und immer stolz auf unsere Existenz sein." Die Rede gibt es auch als Video, vorgelesen von Reintke.

Gegen Abend hatte sich die Lage zunächst beruhigt und tausende LGBT feierten in der Innenstadt ihren Pride.
#Pride2016 Taksim'de gün boyu devam eden engellemelere, gözaltılara rağmen yüzlerce LGBTİ aktivisti tekrar toplandı: pic.twitter.com/Dy4LFCqcmX
— dokuz8 (@dokuz8haber) June 26, 2016
Dann griff die Polizei erneut mit Tränengas ein, vertrieb die Pride-Teilnehmer und verprügelte auch einzelne von ihnen mit Schlagstöcken und Tritten:
#Pride2016 Tekrar sokağa giren polis cop kullandı. Bir aktivist cop ve tekme darbeleri aldı. Çekime izin verilmedi. pic.twitter.com/vVmU5Sr1Hf
— dokuz8 (@dokuz8haber) June 26, 2016
Um kurz nach zehn Uhr deutscher Zeit twitterte Reintke, ihre Kollegen seien nun wie viele weitere Festgenommenen auf freiem Fuß. Max Lucks bedankte sich wenig später auf Facebook für die Solidarität in sozialen Netzwerken; 14 von 28 Personen seien freigelassen worden.

"Es ist nicht länger hinnehmbar, dass die deutsche Bundesregierung zu der menschenrechtlichen Situation in der Türkei schweigt", hatte Nyke Slawik, politische Geschäftsführerin der Grünen Jugend NRW, zuvor in einer Pressemitteilung gefordert. "Das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen Aktivist*innen reiht sich ein in eine Serie von Menschenrechtsverletzungen. Die Entwicklung hin zu einem zunehmend unfreieren und undemokratischerem Land betrachten wir seit Längerem mit großer Sorge. Wir fordern: Frau Merkel, liebe Bundesregierung, zeigt Haltung und lasst die heutigen Vorfälle nicht unkommentiert!"
Aus dem Ausland waren insgesamt mehrere Politiker und Aktivisten zur Unterstützung angereist, darunter Vertreter von Amnesty International und von den Grünen neben Reintke und Beck auch der Kölner Bürgermeister Andreas Wolter (ein Interview dazu). Am Morgen waren die CSD-Verantwortlichen mit den internationalen Gästen und vielen Regenbogenflaggen in einem Schiff über den Bosporus gefahren. In Berlin gab es zeitgleich zum ursprünglich vorgesehenen Beginn des Prides eine Kundgebung vor der türkischen Botschaft.

Mehrere türkische LGBT-Seiten, darunter die des Pride und kaosgl.org, waren derweil am Sonntag Opfer eines Denial-of-Service-Angriffes und so gut wie nicht zu erreichen.
Im letzten Jahr war der zwölfte "Marsch des Stolzes" überraschend verboten worden, noch überraschender ging die Polizei dann mit Wasserwerfern, Tränengas, Knüppeln und Gummigeschossen auf LGBT los, die dennoch demonstrieren wollten (queer.de berichtete). Auch eine CSD-Party am Abend wurde angegriffen.
In diesem Jahr hatten auch die von der Erdogan-Regierung bestimmten Gouverneure, die u.a. für Polizei und Sicherheitsbehörden zuständig sind, einen Protest zum Internationalen Tag gegen Homo- und Transphobie in Ankara am 17. Mai und vor vier Wochen den CSD in Izmir verboten. Dort trotzten tausende LGBT dem Verbot und blieben unbehelligt (queer.de berichtete).















Da ist wieder die Verlogenheit der Diktaturen: man höre und sich auf der Zunge zergehen lassen, wegen Sicherheitsbedenken!, ja und warum geht dann die polizei schlimmer vor als die homophoben?