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Kommentar
Kretschmann und die Brandstifter

Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg / flickr) Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann bedient bewusst die Klaviatur der Homohasser (Bild:
- 6. Oktober 2016, 05:12h 3 Min.
Mit seinem homofeindlichen Meinungsbeitrag in der "Zeit" hat der grüne Ministerpräsident seiner Partei einen Bärendienst erwiesen.
Von Micha Schulze
Es gibt nichts schönzureden: Winfried Kretschmanns Artikel "Große Aufgaben, grüne Verantwortung" für die Wochenzeitung "Die Zeit" ist ein Schlag ins Gesicht aller LGBTI-Menschen in Deutschland. Nebenbei führt der Ministerpräsident die Politik seiner früheren grün-roten Landesregierung ad absurdum und erweist seiner Partei ein Jahr vor der Bundestagswahl einen Bärendienst.
Der grüne Oberrealo, der nun mit der CDU regiert, hat sich in seinem Beitrag mal nebenbei von einer aktiven Gleichstellungspolitik für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten verabschiedet und erteilt einer gleichberechtigen Vielfalt der Lebensweisen eine Absage (queer.de berichtete).
Natürlich klingt das bei Kretschmann viel netter als beim klassischen Homofeind – so geschickt formuliert, dass nicht einmal der geschätzte "blu"-Kollege Christian Knuth den Affront begriffen hat oder man bei Facebook über angebliche "Missverständlichkeiten" im Text des knallharten Politprofis diskutiert.
Die Sprache von AfD und "Demo für alle"
"Homosexualität und alternative Familienmodelle sind weitgehend akzeptiert", schreibt Kretschmann, dessen frühere Landesregierung einen dicken "Aktionsplan für Akzeptanz & gleiche Rechte" erarbeitet hat, weil in diesem Bereich leider noch sehr viel zu tun ist. Aber darüber kann man streiten, das ist nicht der wesentliche Kritikpunkt.
Bedenklicher sind andere Formulierungen: Winfried Kretschmann will zwar die "errungenen Freiheiten […] ohne Wenn und Aber verteidigen", schweigt aber zu der ausstehenden Gleichstellung von Lesben und Schwulen im Adoptions- und Eherecht. In diesem Zusammenhang schreibt der Ministerpräsident ausgerechnet von "individuellen Lebensentwürfen". Suchen sich Menschen ihre Homo- oder auch Transsexualität etwa frei aus?
"Traditionellen Lebensformen" stellt Kretschmann eine "Individualisierung ins Extrem" und einen "Egoismus" gegenüber, gleichzeitig beklagt er eine "tendenziell übersteigerte politische Korrektheit" – als ob sexuelle Selbstbestimmung kein Menschenrecht ist und Diskriminierung nur eine Petitesse. Eine Wortwahl, die wir sonst nur vom Papst oder der "Demo für alle" kennen und nun wirklich nicht von den Grünen, deren Glaubwürdigkeit der Ministerpräsident schwer beschädigt.
Die größte Frechheit ist die Umdeutung des emanzipatorischen Wowereit-Zitats, mit der Kretschmann bewusst die Klaviatur der Homohasser bedient: "So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so."
Zusammengefasst sagt der grüne Ministerpräsident, der seiner Partei im Text ausgerechnet ein "Moralisieren" vorwirft, nichts anderes als die AfD und nicht wenige in der CDU: Ich habe ja nichts gegen Homos, aber irgendwann muss mal gut sein. Ihr habt doch schon so viele Rechte. Ihr seid überall toleriert, jetzt müssen wir uns um die Mehrheit kümmern. Die Minderheit sollte den Bogen bitte schön nicht überspannen.
Winfried Kretschmann versteht seine Thesen als Antwort auf den erstarkenden Rechtspopulismus, auf den "neuen autoritären Zeitgeist, der die Errungenschaften der modernen, offenen und toleranten Gesellschaft in Frage stellt und die Zeit zurückdrehen will", wie er sehr treffend in seinem Text schreibt. Doch wie der naive Gottlieb Biedermann in Max Frischs Roman "Biedermann und die Brandstifter" merkt Kretschmann leider nicht, dass er mit seinem Anbiedern an die AfD und seinem prinzipienlosen Opportunismus erst dafür sorgt, dass die Brandstifter ihre Arbeit erledigen und ihr Ziel erreichen können.

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