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Erst durch den gesellschaftlichen Druck der heterosexuellen Normalität wird Homosexualität zu einem Problem für einzelne Lesben und Schwule
- 18. Oktober 2016, 10:05h 4 Min.
Der neue Sammelband "Selbsthass & Emanzipation" legt den Finger auf die blinden Flecken queertheoretischer Ansätze.
Von Bodo Niendel
Im Berliner Querverlag ist der neue Sammelband "Selbsthass & Emanzipation" (Amazon-Affiliate-Link ) erschienen. Herausgeberin Patsy l'Amour laLove hat darin Texte von Menschen zusammengefasst, die Einblicke auf den Selbsthass sexueller Minderheiten liefern – aus einer lesbischen, schwulen und trans* Perspektive.
Ungewohnt ist der theoretische Zugang der Herausgeberin in dem von ihr verfassten Eingangsbeitrag. Entgegen des nun seit einem Vierteljahrhundert währenden Queer-Theorie-Hypes, knüpft ihre Betrachtung an die Psychoanalyse an. Sie stellt den Selbsthass in Verbindung zu den kulturellen Normen und gesellschaftlichen Verhältnissen.
Heterosexuelle müssen in der Regel ihre Sexualität nicht problematisieren. Sie gelten als "normal". "Homosexuelle haben dann dieses Thema zusätzlich zu bewältigen. Nicht etwa, weil Homosexualität an und für sich etwas Problematisches wäre, sondern weil sie durch den gesellschaftlichen Druck der heterosexuellen Normalität zu einem Problem wird", schreibt laLove. Dieser könne sich dann bei Schwulen etwa in übersteigerter Männlichkeit, Hass auf Tunten oder Hass auf scheinbar "effeminiertes Verhalten" äußern. Dass sie dabei nur gesellschaftliche und kulturelle Normen spiegeln, gerate dabei aus dem Blickfeld.
Martin Dannecker will den Hass "delegitimieren"

Herausgeberin Patsy l'Amour laLove knüpft an die Psychoanalyse an (Bild: Dragan Simicevic Visual Arts)
Im Interview mit den Sexualwissenschaftler Martin Dannecker schlägt dieser in eine andere Kerbe und macht darauf aufmerksam, dass auch in jeder Beziehung zugleich Hass und Liebe stattfindet. "Den Hass bekommt man nicht aus der Welt. Ich möchte ihn […] auch nicht anthropologisieren. Das wäre für die Gesellschaft zu bequem. […] Der Hass muss vielmehr delegitimiert werden." Hass versteht Dannecker in einem eher universalen Sinn und meint damit auch den zunehmenden Rassismus und den Hass auf Flüchtlinge.
Andrea Trumann kritisiert die Theorie von Judith Butler und macht darauf aufmerksam, dass Butler allgemeines Bezeichnen von der Verwerfung des Homosexuellen durch eine "heterosexuelle Matrix" nicht auf die Unterschiede der Diskriminierung von Lesben und Schwulen eingehe. Butlers philosophischer Zugang berücksichtige nicht die historische Entwicklung.
Die Verlegerin Manuela Kay wendet sich gegen die ständige Verwendung des Wortes "queer". Sie legt nahe, dass das Vermeiden des Wortes "lesbisch" in der lesbischen Community auch eine Form des Selbsthasses ist, da die Bezeichnung "queer" keine Provokation darstelle. Denn, so Kay: "Queer heißt alles und nichts. Queer ist […] das neue Wischiwaschi."
Till Amelung macht darauf aufmerksam, dass die Queer-Theorie und der damit verbundene Poststrukturalismus von vielen Trans*-Aktivist*innen mit Skepsis betrachtet wird, lasse diese Theorie doch das Trans*sein in den heterosexuellen Normen verhaftet erscheinen. Dies negiere aber das körperliche Erleben von Geschlecht durch Trans*menschen.
Hass und Selbsthass machen krank

Der Sammelband "Selbsthass & Emanzipation" ist im September im Berliner Querverlag erschienen
Spannend ist der Beitrag von Dirk Sander. Er zeigt anhand der Studien zur Gesundheit bei schwulen Männern, dass diese mit mehr körperlichen und seelischen Erkrankungen konfrontiert sind als heterosexuelle. Ebenso sind sie eher suchtgefährdet. Sander kritisiert, dass bislang zu selten auf den gesellschaftlichen Hintergrund dieses Phänomens aufmerksam gemacht werde.
"Wir können festhalten, dass ein negatives gesellschaftliches Klima gegenüber sexuellen Minderheiten und die daraus resultierenden Diskriminierungserfahrungen die Internalisierung von Homo- und Transnegativität in mehreren Bereichen und in wechselhafter Verstärkung das individuelle und kollektive Gesundheitsprofil verschlechtern", schreibt Sander. Deutsche Ärzte sähen diesen Zusammenhang viel zu selten. Auch laLoves Nachbemerkung zu dem Attentat in Orlando und das mediale Spekulieren über einen angeblichen Selbsthass des Täters ist gewinnbringend.
Einige Beiträge sind aus meiner Warte etwas zu anekdotenhaft verfasst, doch dies betrifft nur wenige. Insgesamt ist der Sammelband ein im besten Sinne belehrendes Buch. Gerade der andere theoretische Zugang erfrischt. Persönlich würde ich mir weniger Streit der Schulen (Butler/Foucault versus Freud/Adorno) und mehr Synthese wünschen. Doch es bedarf wohl erst einmal eines Gegen-Akzents.
Das Buch "Selbsthass & Emanzipation" legt den Finger auf die blinden Flecken queertheoretischer Ansätze und es erschließt das Thema Selbsthass sexueller und geschlechtlicher Minderheiten auf gehaltvolle Weise.
Am Donnerstag, den 27. Oktober um 20.30 Uhr liest Patsy l'Amour laLove aus ihrem Buch im Berliner Buchladen Eisenherz (Motzstraße 23) – zusammen mit Elmar Kraushaar, der seine Neuerscheinung "Störenfried – 40 Jahre Homo-Journalismus" vorstellt.
Links zum Thema:
» Mehr Infos zum Buch und Bestellmöglichkeit bei Amazon
» Leseprobe als PDF
» Homepage von Patsy l’Amour laLove
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