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Paul Russell erinnert mit einer literarischen Odyssee an Sergej Nabokow, dessen Leben im Schatten seines berühmten Bruders Vladimir stand.
"Ich könnte meine gesamte Jugend en détail beschreiben, ohne mich ein einziges Mal an ihn zu erinnern", sagte der große Erzähler Vladimir Nabokow einmal über seinen jüngeren Bruder Sergej. Und tatsächlich: Selbst in Nabokows Memoiren "Sprich, Erinnerung" bleibt Sergej eine Randfigur, der der Autor erst in der dritten Auflage des Werks ein wenig Aufmerksamkeit zugesteht.
Dennoch war Sergej, der schwule, stotternde Sonderling der Familie, durchaus präsent im Leben seines großen Bruders und sollte vor allem Vladimirs literarische Arbeit prägen. Nabokows erster englischsprachiger Roman "Das wahre Leben des Sebastian Knight" etwa steckt voller Referenzen an den Bruder, der dem Nabokow-Clan immer wie ein Gegenentwurf zum sportlichen, wortgewandten und vor Selbstsicherheit nur so strotzenden Vladimir erschien.
Eine fiktionale Autobiografie
Mit seinem Roman "Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow" (Amazon-Affiliate-Link ) befreit der US-amerikanische Schriftsteller Paul Russell Sergej nun von seinem ewigen Schattendasein und widmet dem Mann, der 1945 im KZ Neuengamme starb, eine fiktionale Autobiografie.
Da nur wenig über Sergej bekannt ist, bereichert Russell seine akribisch recherchierten Informationen freimütig um allerlei Spekulationen. Sein Roman stellt gar nicht den Anspruch, in allen Einzelheiten historisch korrekt zu sein, sondern kommt seinem unbekannten Protagonisten gerade durch das faszinierende Wechselspiel von Fakt und Fiktion auf die Schliche.
Im Rückblick, den nahenden Tod vor Augen, lässt Russell seinen Helden erzählen und füllt Wissenslücken dabei stets auf stimmige Weise. So entsteht nach und nach das lebendige Bild einer ganzen Epoche: Vom russischen Zarenreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Studienzeit in England und die Pariser Kunstwelt der Zwanzigerjahre bis zur Nazi-Diktatur führt Sergejs Odyssee durch die Moderne.
Kenntnisreich blickt der promovierte Literaturwissenschaftler Russell dabei auf Menschen und Zeiten. Sein Protagonist, obwohl im Zentrum der Erzählung, bleibt dabei oft auf Distanz zum Treiben um ihn herum und erweist sich als neugieriger Beobachter dieser Welt, in der unter anderem Jean Cocteau, Picasso und Gertrude Stein auftreten.
Vom Außenseiter zum Vorreiter
Zugleich lässt sich Sergejs Lebensweg als eine Emanzipationsgeschichte begreifen. Der ungeliebte Außenseiter, der von der Familie mit herabblickender Toleranz geduldet wird, entwickelt sich nach und nach zu einem Vorreiter, der für unbeliebte gesellschaftliche Positionen einsteht – sei es als Gefährte Magnus Hirschfelds im Bemühen um eine aufgeklärte Sexualforschung oder als ausgesprochener Gegner des Nazi-Regimes.
Vor allem aber lässt sich "Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow" als entschiedener Widerspruch und notwendige Ergänzung zu Vladimir Nabokows literarischem Schaffen verstehen. Denn Russell hinterfragt nicht nur die Verklärung des weltberühmte Literaten, sondern stellt dessen homophoben Ausfällen das schillernde Porträt eines schwulen Querdenkers entgegen – und das ist allemal mehr als bloß eine Randnotiz wert.
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