Bundestagsabgeordnete sind laut Artikel 38 des Grundgesetzes "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Soweit die schöne Theorie. In der Praxis ordnen sich Politiker aller Parteien immer wieder mehr oder weniger freiwillig dem Fraktionszwang unter, anstatt ihr in der Verfassung garantiertes Recht wahrzunehmen.
Dabei waren die wenigen Fälle, in denen im Deutschen Bundestag wirklich mal frei abgestimmt wurde, Sternstunden der bundesdeutschen Demokratie. So wie 1991 bei der historischen Entscheidung zur Verlagerung des Regierungssitzes nach Berlin oder bei den Abstimmungen zur Spätabtreibung 2010, zur Präimplantationsdiagnostik 2011 oder zur Sterbehilfe 2015.
Ablehnung der Ehe für alle wird religiös begründet
Es ist völlig unverständlich, dass ausgerechnet die Frage der Ehe-Öffnung für lesbische und schwule Paare für die Union keine Gewissensentscheidung sein soll, obwohl viele Gegner ihre Ablehnung einer rechtlichen Gleichstellung im Eherecht mit ihrem (christlichen) Glauben begründen.
Dass die Mehrheit der Union im 21. Jahrhundert weiterhin Menschen diskriminieren will, ist schon traurig genug. Indem CDU und CSU aber allein aufgrund eines überholten Sitte-Verständnisses – und offensichtlich aus Angst vor der AfD – auf den Fraktionszwang pochen, beschädigen sie die Demokratie. Dabei könnten sie mit einer freien Abstimmung sogar Größe zeigen und als angebliche Volksparteien nach allen Seiten ihr Gesicht wahren. Doch stattdessen ignoriert die Union sogar 82,6 Prozent der Bevölkerung, die sich nach einer Studie der Antidiskriminierungsstelle klar für die Ehe für alle aussprechen.
Am Zug ist nach dem gescheiterten Koalitionsgipfel aber vor allem die SPD, die nun zeigen kann, wie wichtig ihr die Rechte von Lesben und Schwulen wirklich sind. Um die Ehe-Öffnung noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden, müssen die Sozialdemokraten im Bundestag einfach nur die Blockade der Gesetzentwürfe von Bundesrat, Linken und Grünen beenden und im Plenum die Hand heben.
Die SPD könnte sich dabei gleich zweimal auf das Grundgesetz berufen. Weil alle Menschen vor dem Gesetz gleich und alle Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet sind.
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