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Aktivisten tief besorgt
Tschetschenien: Angeblich über 100 Schwule durch Sicherheitskräfte verschleppt
Die russische Zeitung "Novaya Gazeta" spricht von einer landesweiten Verfolgungswelle mit mehreren Toten. Indizien für den Bericht mehren sich.

Ein Beamter in Grosny (Symbolbild)
1. April 2017, 22:35h 7 Min. Von
In der autonomen russischen Republik Tschetschenien könnte sich in den letzten Tagen eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes abgespielt haben und weiter abspielen. Laut der in der Regel seriösen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" wurden über 100 Menschen im ganzen Land von Sicherheitskräften wegen angeblicher Homosexualität verhaftet und gefoltert. Mindestens drei Personen seien getötet worden.
Seit einer Woche habe die Zeitung Berichte über Massenverhaftungen erreicht, schreibt die Journalistin Elena Milaschina. Inzwischen habe man dafür Bestätigungen aus den verschiedensten Quellen erhalten, vom FSB über das Innenministerium der autonomen Republik bis hin zu LGBT vor Ort. Der Zeitung seien drei Tote namentlich bekannt, aber laut Quellen gebe es erheblich mehr Opfer.
Die Männer würden an verschiedenen Orten festgehalten, nicht nur in Grosny, so die Zeitung. Einige seien freigelassen worden und konnten fliehen, andere hätten sich nach Meldungen über die Verhaftungen versteckt. Unter den Festgenommenen seien auch prominente religiöse Anführer und zwei nationale TV-Persönlichkeiten.
Die Opfer der Verfolgung hätten "kaum eine Chance auf Überleben", so "Novaya Gazeta". Viele Familien würden sich nicht trauen, sich bei den Behörden über die Verhaftung ihrer Angehörigen zu beschweren, und könnten das Verschwinden totschweigen. In einer Region, in der es noch zu Ehrenmorden komme, könnte den Männern bei einer Entlassung gar Gewalt durch die eigene Familie drohen.
Moskauer CSD-Organisator beschuldigt
Die Meldung der Zeitung hatte am Samstag zunächst für Verwirrung gesorgt, ob es sich nicht um einen üblen April- und Propagandascherz handle. Auf diese Idee kamen zunächst viele Aktivisten und Kommentatoren in sozialen Netzwerken, da die Zeitung die Verfolgungswelle auf eine Aktion des Moskauer CSD-Organisators Nikolai Aleksejew zurückführte: Der hatte mit Mitstreitern mehrere Pride-Demonstrationen im muslimisch dominierten Nordkaukasus, allerdings nicht in Tschetschenien selbst, angemeldet, was zu Irritationen und heftigen Kommentaren in sozialen Medien geführt hatte.
Allerdings hatten Aleksejew und seine Mitstreiter entsprechende Demonstrationen zuletzt in etlichen Teilen ganz Russlands angemeldet – mit dem bekannten Ziel, diese nicht durchzuführen, sondern die Behörden mit den stets folgenden Verboten lächerlich zu machen und diese zugleich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen. Dass Aleksejew nun Anlass der Verfolgung schwuler Männer gewesen sein soll, hielten viele für obskure Propaganda – es wäre nicht das erste Mal, dass der Aktivist zur Zielscheibe von Medien und in Täter-Opfer-Umkehr für homofeindliche Gesetze oder Gewalt verantwortlich gemacht wird.
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Anhaltende "präventive Säuberungen"?
"Novaya Gazeta" schrieb jedenfalls, laut ihren Informationen sprächen die tschetschenischen Behörden von "präventiven Säuberungen". Von der Aleksejew-Frage abgesehen scheinen sich die Berichte über die Verfolgung inzwischen zu bestätigen. Selbst die "New York Times" schrieb am Samstag, die Kollegen der Zeitung aus Moskau hätten Berichte verifiziert, die seit Tagen unter Menschenrechtsaktivisten vor Ort die Runden machten.
"Erst verschwanden zwei Fernsehreporter", schreibt die amerikanische Zeitung. "Dann verschwand ein Kellner. Im Laufe der letzten Woche verschwanden Menschen im Alter von 16 bis 50 Jahren von den Straßen Tschetscheniens." In der Republik, in der praktisch niemand offen homosexuell lebt, hätten die Behörden Verdächtige per Kontakten in sozialen Netzwerken ausfindig gemacht. Viele Schwule würden nun ihre Profile löschen in der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist.
Die bekannte lesbische "Novaya Gazeta"-Journalistin Elena Kostyuchenko schrieb auf Facebook, sie vertraue ihrer Kollegin. "Das ist passiert und passiert gerade. Die Situation hält an, die Morde und die Identifizierung von Schwulen. Das LGBT Network versucht, eine Notevakuierung zu organisieren." Der Verband selbst schrieb im sozialen Netzwerk vk, er könne die Informationen der Zeitung bestätigen und wolle sich am Sonntag näher äußern.
Gegenüber "Echo Moskau" sagte die Menschenrechtsaktivistin Ekaterina Sokiryanskaya, die von der "New York Times" als "Autorität" zu Nordkaukasus-Fragen bezeichnet wird, ihr lägen Berichte aus verschiedenen Quellen vor. "Wir wissen von mehreren Fällen, in denen Verhaftete sehr wahrscheinlich getötet und oft zuvor brutal gefoltert wurden." Man habe wenige Informationen von Opfern und ihren Angehörigen selbst. "Aber es ist unmöglich, das nicht zu glauben." Viele ihrer Quellen seien "in reinster Panik".
Brutale Dementis aus Grosny
Ein Sprecher von Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow, Alwi Karimov, sagte gegenüber der Agentur Interfax, bei dem "Gazeta"-Bericht handle es sich um "absolute Lügen und Desinformation". Der Sprecher sagte zugleich: "Du kannst keine Personen verhaften oder unterdrücken, die in der Republik nicht existieren. Falls solche Menschen in Tschetschenien existieren würden, hätten ihre Verwandten sie zu einem Ort geschickt, von dem sie nicht zurückkehren können." Karimov betonte ferner: "Wenn es Leute in den Behörden der Republik gibt, die anonym Informationen an die Medien geben, dann sind das keine echten Männer, sondern eine Platzverschwendung."
Heda Saratow vom Menschenrechtsrat der Republik äußerte sich ähnlich drastisch und sagte, sie habe keine Berichte über die Verfolgungen erhalten, würde diese aber auch nicht verdammen: "Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch in Tschetschenien, der Traditionen und sich selbst achtet, alles tun wird, damit wir keine solche Menschen (LGBT) haben."
Update 2.4., 11.40h: Volker Beck bittet Außenamt um Hilfe
Der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck hat sich an Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) und die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung mit der Bitte gewandt, alles Mögliche für den Schutz der verfolgten Homosexuellen zu unternehmen. "Die antihomosexuelle Verfolgungswelle in Tschetschenien muss man sehr ernst nehmen", so Beck in einer Pressemitteilung. "Das Dementi aus Grosny klingt eher nach einer Bestätigung: Falls ein Homosexueller auftaucht wird durch Ermordung seine Nichtexistenz bewiesen."
Die Bundesregierung müsse Verfolgten eine Aufnahme aus dringenden humanitären Gründen nach §22 und 23 des Aufenthaltgesetzes anbieten, so Beck. Sie sollte "russische bzw. tschetschenische Menschenrechtsorganisationen kontaktieren und bei der Rettung von Verfolgten helfen und sie ggf. auch finanziell unterstützen." Gegenüber russischen und tschetschenischen Stellen sollte die Bundesregierung ihre Besorgnis über diese Entwicklung deutlich zum Ausdruck bringen.
Update 16.05h: LGBT-Netzwerk will Flucht aus der Region unterstützen
Das Russian LGBT Network hat sich in einer Stellungnahme (engl., russ.) "sehr verstört und besorgt" gezeigt über die "Informationen zu Kidnappings und Morden" in Tschetschenien. Auch sei man empört über Stellungnahmen von Offiziellen, die Taten wie diese rechtfertigen. Verweise auf "Traditionen" zur Rechtfertgiung von Morden seien "unmoralisch und kriminell".
Auch aufgrund dieser Aussagen sehe man als einizige Hilfsmöglichkeit für die Betroffenen, ihnen bei einer Evakuierung zu helfen. Dazu stehe man mit Partnern vor Ort, in Russland und weltweit in Kontakt. Wer Informationen zu Personen habe, die Hilfe benötigen, solle sich direkt an das Netzwerk wenden; es hat dazu eine Telefon-Hotline (88005557374 in Russland) eingerichtet. Das Netzwerk hatte bereits am Mittwoch in sozialen Netzwerken einen Eintrag verbreitet, in denen es LGBTI aus der Region Unterstützung anbietet.
Laut der Stellungnahme vom Sonntag werde sich das Netzwerk zudem mit der Bitte an die Staatsanwaltschaft wenden, die Berichte über die Verbrechen aufzuklären. Bei der Behörde (Investigative Committee of Russia) werde man auch eine Strafanzeige wegen der Äußerungen der tschetschenischen Offiziellen stellen. Entsprechende Schritte könne jeder Bürger einleiten.
Update 17h: Protest in St. Petersburg
In St. Petersburg haben rund 20 junge Mitglieder der Organisation "Coming out" am Sonntag einen Rainbow-Flashmob auf dem Marsfeld abgehalten. Der bereits vorab geplante Protest richtete sich gegen die Stadtverwaltung und forderte diese dazu auf, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu gewährleisten. Auf einem Schild stand auch: "Schützt uns vor Morden." Polizisten vor Ort sprachen mit den Teilnehmern, ließen diese aber gewähren. Hintergrund des rund 20 Minuten dauernden Protestes waren zunehmende Verbote von Protesten der Bewegung, oft unter Verweis auf das Gesetz gegen "Homo-Propaganda".
Update 21h: Oppositionspartei spricht von "Genozid"
Die russische Partei Jabloko hat sich schockiert gezeigt über "die extrem brutale Welle von Repression gegenüber Bürgern", die zur Ermordung vieler Vertreter einer Minderheit geführt habe.
Mord ist ein "besonders schweres Verbrechen, das zurecht stark nach dem Strafgesetzbuch bestraft wird, und Mord aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Minderheit ist nichts anderers als ein Genozid", so die Vorsitzende der kleinen sozialliberalen Partei, Emilia Slabunowa. "Egal, wieviele Menschen getötet werden, das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit." Die Behörden müssten die Taten umfassend aufklären.
"Mögliche Opfer sollte ein sicherer Hafen an einem sicheren Ort gewährt werden", so die Pressemitteilung. "Wir appellieren an ausländische Staaten, Menschen, die durch Bedingungen bedroht sind, in der ein Genozid tatsächlich möglich ist, bedingungslos Asyl zu gewähren."
Update 23.10h: Interview mit "LGBT Network"
In einem Radio-Interview hat der bekannte russische LGBTI-Aktivist Igor Koschetkow die Meldungen über die Verfolgungswelle gegenüber schwulen Männern in Tschetschenien bestätigt: "Die Menschen verschwinden, sie werden getötet."
