Eine Kundgebung mit dem Rosa Winkel, mit dem die Nazis einst im KZ schwule Männer kennzeichneten, am Mittwoch vor der russischen Botschaft in London (Bild: Joshua_Young_ / twitter)
Der britische "Guardian" hat am Donnerstag zwei Berichte von Betroffenen der Verschleppung schwuler Männer in Tschetschenien veröffentlicht. Die Männer konnten inzwischen aus der Region und Russland fliehen. Ihre Berichte wurden von der Zeitung anonymisiert; es könnte sich um Männer handeln, die in den letzten Tagen bereits gegenüber der Zeitung "Novaya Gazeta" und dem LGBT Network aus Russland oder dem Radio Free Europe von ihren Erlebnissen berichteten.
Mindestens einmal täglich hätten ihn die Wachleute mit Elektroschocks gefoltert, erzählte "Adam" von seiner Tortur in einem der informellen Gefängnisse. Dorthin sei er vor circa einem Monat mit rund einem Dutzend weiterer Gefangener verschleppt worden. Manchmal wollten sie von ihm die Namen und Kontaktmöglichkeiten weiterer Schwuler wissen, so Adam. "Manchmal haben sie sich einfach amüsiert."
Seinen Angaben zufolge war Adam verhaftet worden, als er per Telefon ein Treffen mit einem schwulen Bekannten ausmachte: "Er hat mich angerufen, in einem sehr ruhigen und normalen Ton, und schlug ein Treffen vor. Ich kannte ihn eine lange Zeit und habe also keinerlei Verdacht gehabt." Doch am Treffpunkt seien sechs Personen gewesen, einige in Uniform, und hätten ihn beschuldigt, schwul zu sein.
Von der "Novaya Gazeta" in der letzten Woche veröffentlichte Karte, die eines der Gefängnisse zeigen soll. Es liegt in Argun im Südosten der Hauptstadt Grosny. Die Berichterstattung, die auch mögliche Verantwortliche für die Verfolgung benannte, hat bislang zu keinen Ermittlungen durch Behörden oder weitere Recherchen regionaler Medien geführt.
Schnell wurde klar, dass die Männer Botschaften gelesen hatten, die Adam an andere Männer verschickt hatte. Er wurde in das Hintere eines Lieferwagens gesteckt und in ein Gefängnis gebracht, wo er mit anderen Männern in einen Raum gesperrt wurde und auf dem Fußboden schlafen musste. "Sie weckten uns um fünf Uhr morgens auf und ließen uns erst um ein Uhr schlafen. Unterschiedliche Personen kamen in den Raum und verprügelten uns abwechselnd. Manchmal haben sie andere Gefangene gebracht, denen gesagt wurde, wir seien schwul. Und sie wurden gezwungen, uns zu schlagen."
Von einer Rangordnung, bei der u.a. ebenfalls verschleppte Drogenkonsumenten über den schwulen Gefangenen standen, hatten zuvor bereits andere Augenzeugen berichtet, wie auch über die "Ermittlungen" der Sicherheitskräfte: Sie gingen die Smartphones der Gefangenen nach weiteren Kontakten durch.
"Sie nannten uns Tiere und Nicht-Menschen, sie sagten, wir würden hier sterben", so Adam. Nach über zehn Tagen seien einige Männer an ihre Familien entlassen worden: "Sie sagten: 'Euer Sohn ist eine Schwuchtel. Macht mit ihm, was ihr machen müsst.'" Sein Vater habe ihn beschimpft und mit Gewalt bedroht, so Adam. Dann sei er geflohen, den Kontakt zu seiner Familie habe er abgebrochen.
Die Abgründe tun sich immer mehr auf
Das russische LGBT-Network hat eine Hotline unter der russischen Nummer 88005557374 eingerichtet und bietet Betroffenen aus Tschetschenien auch Kontakt unter kavkaz@lgbtnet.org an. Mehr Infos: Englisch, Russisch
Aktivisten befürchten, dass dutzende Männer durch die Folter sowie durch "Ehrenmorde" durch ihre Familien ums Leben gekommen sein könnten. Laut der Zeitung "Novaya Gazeta" sind bislang drei Tote namentlich bestätigt, zwei Geheimgefängnisse wurden öffentlich in Zusammenhang mit der Verfolgungswelle genannt, die laut "Radio Free Europe" schon im letzten Dezember begonnen haben könnte.
Erpressungen und Entführungen, bei der Sicherheitskräfte homo- und bisexuelle Männer schlugen, erpressten und ermahnten, hatte es in der autonomen Teilrepublik schon immer gegeben. Aber diese Welle ist ein anderes Kaliber: "Wir sprechen von einer Massenverfolgung schwuler Menschen, hunderte Personen wurden von den Behörden entführt", sagte der russische Aktivist Igor Koschetkow dem "Guardian".
Koschetkow ist einer der Mitstreiter des LGBT Network, das versucht, Betroffene aus Tschetschenien zu evakuieren (deutsches Spendenkonto dazu) – und das durch die Arbeit erst nach und nach einen Eindruck von der Größe der Verfolgungswelle bekommt. Den inzwischen von manchen Medien benutzten Begriff "Konzentrationslager" lehnt der Verband ab. Koschetkow sagt aber auch: "Das ist beispiellos nicht nur in Russland, sondern in der jüngeren Weltgeschichte. Es gibt kaum einen Zweifel, dass wir es mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun haben."
An seinen Verband hätten sich inzwischen dutzende Männer aus der Region mit Bitte um Informationen und Hilfe gewandt, so Koschetkow. Viele der homosexuellen Tschetschenen, die oft eine Ehefrau und Kinder haben und ein Doppelleben führen, trauten sich diesen Schritt nicht, der Überwindung und Vertrauen brauche: "Diese Menschen haben in einer total abgeschirmten Gesellschaft gelebt und ihr ganzes Leben lang eine absolute Verschwiegenheit bewahrt. Manche sind unfähig, auch nur den Begriff 'schwul' zu nutzen."
Flucht vor den Sicherheitskräften und der Familie
So sagte dann auch der zweite Zeuge des "Guardian", Achmed: "In meinen größten Albträumen hätte ich mir nicht vorgestellt, dass ich hier mit einem Journalisten sitze und sage: 'Ich bin Tschetschene und ich bin schwul.'"
Die Geschichte Achmeds ähnelt einer, die bereits von Radio Free Europe geschildert wurde: Von seinem ersten Date sei Achmed vor einiger Zeit an die Polizei verraten worden, die ihn ebenso erpressen wollte wie seine damalige Bekanntschaft. Die neue Welle habe er indirekt mitbekommen, durch Anrufe von Familienmitgliedern, die ihn baten, sich zu stellen – die Polizei stünde in der Wohnung und würde ansonsten ein Familienmitglied als Geisel nehmen.
"Ich habe keinen Zweifel, dass meine Verwandten planten, mich zu töten", so Achmed. "Das war eine Einladung zu einer Exekution." So sei er geflohen, obwohl er sich bis vor kurzem noch vorgenommen hatte, ein Doppelleben zu führen, die Familie, mit der nun kein Kontakt mehr bestehe, stolz zu machen und sein Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.
Der Mann sagte der Zeitung weiter, er habe mehrere Berichte über gefolterte Männer gehört und manche Fotos der Opfer gesehen. Aber aufgrund des Schweigens der Gesellschaft und der Familien gebe es keine genauen Informationen über den Umfang die Verfolgungswelle und was aus vielen der Männern geworden sei: "Niemand weiß, wieviele Menschen ermordet wurden. Aber ich wäre überrascht, wenn es nur drei sind."
Russlands Präsident Wladimir Putin schaut bei den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch das Regime seines "Statthalters" Kadyrow regelmäßig weg.
Internationale Sorge um LGBTI – und Journalisten
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat am Donnerstag derweil Russland aufgefordert, Homosexuelle in der Teilrepublik Tschetschenien besser vor Verfolgung zu schützen. "Die russischen Behörden müssen den schrecklichen Berichten nachgehen und die Schuldigen ermitteln und bestrafen", forderte der Direktor des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), Michael Link. Auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen forderte am Donnerstag eine Freilassung aller Gefangenen und weitere Schritte der Behörden.
Zuvor hatten bereits u.a. mehrere Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, mehrere Außenministerien, der Europarat und das Europaparlament Aufklärung eingefordert – eine entsprechende mehrsprachige Online-Petition an die russische Generalstaatsanwaltschaft wurde inzwischen von fast 130.000 Menschen unterschrieben und wird auch von russischen Aktivisten unterstützt. Auch auf mehreren Kundgebungen auf der ganzen Welt, in Deutschland u.a. in Berlin, hatten hunderte Menschen ihre Solidarität mit den LGBTI in Tschetschenien gezeigt. In Wien ist ein Regenbogenmarsch für nächsten Freitag, den 21. April geplant.
Die letzten Reaktionen der russischen und tschetschenischen Politik sind allerdings über eineinhalb Wochen alt: Ein Sprecher des Kremls hatte betont, die Vorwürfe, zu denen er keine Informationen habe, seien keine Frage der Politik, sondern eine der Strafverfolgung. Und offizielle Vertreter der tschetschenischen Politik samt ihrem Menschenrechtsrat hatten eine vermeintliche Lügenkampagne durch die "Novaya Gazeta" beklagt und letztlich gar abgestritten, dass es in der autonomen Republik überhaupt Homosexuelle gebe.
Die investigative Journalistin der "Novaya Gazeta", Elena Milaschina, die die ersten Berichte zum Thema verfasst hatte, befindet sich inzwischen aus Angst vor Rache an einem sicheren Ort. Am Donnerstagabend veröffentlichte die Zeitung einen neuen Bericht, in der sie tiefe Sorge vor Gewalt gegen Milaschina und weitere Mitarbeiter ausdrückte.
Facebook / Victoria Derbyshire | Elena Milaschina am Mittwoch in der BBC-Sendung "Victoria Derbyshire" (das Teaserbild zeigt nicht sie, sondern Heda Saratow vom Menschenrechtsrat der tschetschenischen Republik)
Anlass war für die öffentliche Sorge der Zeitung ist ein bereits Anfang letzter Woche stattgefundenes Treffen von politischen und religiösen Anführern in der Achmat-Kadyrow-Moschee in Grosny mit der Verabschiedung einer Resolution, in der die Berichterstattung als "Lüge und Verleumdung", die die "Würde und Ehre" der Bürger angreife, zurückgewiesen werden (queer.de berichtete). In einer Rede habe ein Berater des Präsidenten, Adam Schackhidow, die Zeitung als "Feind unseres Glaubens und unseres Heimatlands" bezeichnet. Diese Rede sowie weitere seien im Lokalfernsehen gezeigt worden und hätten zu hasserfüllten Kommentaren in sozialen Netzwerken geführt, so die Zeitung.
Die "Novaya Gazeta" zeigt sich vor allem besorgt über eine Passage in der Resolution, in der eine "Vergeltung (…) ohne Grenzen" angekündigt wird. Die Zeitung kommentiert: "Diese Resolution drängt religiöse Fanatiker zu einem Massaker an Journalisten."
Die Zeitung verweist auf zahlreiche tschetschenische Verbrechen, an deren Aufklärung niemand Interesse zeige – was auch für die Morde an ihren früheren Mitarbeiterinnen Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa gelte. Die russischen Behörden müssten alles tun, um Aufrufe zu Gewalt sowie die Gewalttaten zu verhindern.
Ein Wort in eigener Sache
Hinter gutem Journalismus stecken viel Zeit und harte Arbeit – doch allein aus den Werbeeinnahmen lässt sich ein Onlineportal wie queer.de nicht finanzieren. Mit einer Spende, u.a. per
Paypal oder Überweisung, kannst Du unsere wichtige Arbeit für die LGBTI-Community sichern und stärken.
Abonnent*innen bieten wir ein werbefreies Angebot.
Jetzt queer.de unterstützen!
Man kann es ja nicht mehr in Worte fassen, was da geschieht!
Dass das eine Menschenrechtsverletzung ist, war mir beim ersten Bericht schon klar.
Irgendwie wiederholt sich die braune Vergangenheit nun in diesem Land! Und der Obermilchbubi schaut regelmäßig weg. Schlimmer geht's ja nicht!
Und dass nur gefordert wird, erscheint mir als zu wenig. Da muss knallhart durchgegriffen werden.
Es ist doch eindeutig, dass es eine Menschenrechtsverletzung ist, also müssen Täter bestraft werden. Und denjenigen, die dulden oder wegschauen, sollte ihr Amt entzogen werden.
Dass das nicht so einfach geht, ist mir schon klar.
Aber ich erinnere mich daran, was mal jemand geäußert hatte: Wir werden nicht zulassen, das so etwas jemals wieder geschieht.
Tja, nun geschieht es aber mit einer anderen Menschengruppe! Und nun? Fordern alleine reicht da nicht aus. Und diejenigen, die sagten, es soll nie wieder geschehen, hüllen sich nun immer noch in Schweigen!
Das ist ein Armutszeugnis!
© eine, die entsetzt ist!