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Brutale Verfolgungswelle
Tschetschenien: Bundesregierung in Kontakt mit verfolgten Schwulen
Staatsminister Michael Roth (SPD) bekräftigte im Bundestag den Einsatz des Auswärtigen Amts für die verschleppten und geflohenen Männer.

Michael Roth ist seit 1998 Bundestagsabgeordneter der SPD aus Hessen und seit Dezember 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt
- Von Norbert Blech
26. April 2017, 16:15h 5 Min.
Die Bundesregierung hat sich am Mittwoch im Rahmen einer Fragestunde im Bundestag äußerst besorgt gezeigt über die Verfolgung schwuler Männer in Tschetschenien. Berichten von "Novaya Gazeta" und "Radio Free Europe" zufolge sind seit Dezember letzten Jahres und vor allem seit Februar in der autonomen russischen Republik über 100 Männer durch Sicherheitskräfte in bis zu sechs außergesetzliche Gefängnisse verschleppt und dort gefoltert worden, mehrere Menschen starben dabei oder wurden nach ihrer Freilassung durch Verwandte getötet.
Diese Berichte über die Verfolgung der Männer seien "schrecklich, abstoßend und in höchstem Maße besorgniserregend", sagte der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, der SPD-Politiker Michael Roth, im Bundestag. Und: "Sie erscheinen uns glaubwürdig."
Die Bundesregierung stehe in einem "intensiven Kontakt" mit LGBTI-Aktivisten, Menschenrechtsorganisationen und Journalisten, "die vor Ort sehr engagiert und ausgesprochen mutig über diese Fälle berichtet haben", so der verpartnerte SPD-Politiker auf eine entsprechende Anfrage des Grünenpolitikers Volker Beck.
"Die deutsche Botschaft hat inzwischen Kontakt mit den betroffenen Personen aufgenommen und prüft derzeit Unterstützungsmöglichkeiten", so Roth. Das sei nicht einfach, auch weil die Menschen aus vielerlei nachvollziehbaren Gründen anonym bleiben wollten. "Wir arbeiten hier mit Unterstützung von Nicht-Regierungsorganisationen."
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Die Bundesregierung habe in dieser Krise auf vielfältige Weise nicht nur Solidarität zu den Betroffenen zu bekunden versucht, sondern auch klare Forderungen an die russische Politik aufgestellt, so Roth weiter. So habe der Russland-Beauftrage Gernot Erler (SPD) am 7. April die russische Regierung aufgefordert, den Berichten nicht nur nachzugehen, sondern auch Verfolgten Unterstützung zu gewähren und Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Entsprechende Forderungen habe auch der ständige Rat der OSZE in Wien im Namen aller Mitgliedsstaaten erhoben sowie am Montag erneut die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD). "Seien Sie versichert, dass das nicht das Ende unserer Bemühungen ist", so Roth. "Wir werden das Thema auf höchster Ebene gegenüber der russischen Seite noch einmal zur Sprache bringen und wir werden selbstverständlich die Situation auch weiterhin sehr aufmerksam beobachten."
Aufnahme Verfolgter wird geprüft
In einer Nachfrage betonte Volker Beck, es sei "unrealistisch", dass die russische Regierung den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow dazu bringen werde, Menschenrechte zu achten – "erst Recht nicht die von Homosexuellen". Daher sei es wichtig, gefährdete Personen aufzunehmen, etwa aus dringenden humanitären Gründen nach Paragraf 22 und 23 des Aufenthaltsgesetzes. Beck wollte wissen, ob die Regierung sich diesbezüglich allgemein für Geflüchtete aus der Region einsetzt sowie speziell für die Journalistinnen der Zeitung "Novaya Gazeta", die die Verfolgung aufgedeckt hatten und mit allerlei Drohungen belegt wurden (queer.de berichtete).
"Wir sind ganz konkret dabei, im Interesse der Betroffenen die Sicherheit zu gewährleisten", antwortete Roth. LGBTI-Rechte seien Menschenrechte, und eine Aufnahme der Betroffenen komme für die Bundesregierung in Betracht. "Wir werden deshalb jeden Einzelfall – Sie haben einige besprochen, uns sind weitere bekannt – sehr genau prüfen." Man bitte aber in der Debatte um eine gewisse Diskretion, um die Sicherheit der Betroffenen zu wahren.

Volker Beck am Mittwoch im Bundestag
Beck verwies noch auf das Problem, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aktuell in mehreren Fällen Asylanträge von schwulen Flüchtlingen aus der Region abgelehnt habe. Dabei komme für Betroffene aus Tschetschenien eine Flucht nach Russland aus Sicherheitsgründen nicht in Betracht.
Er könne den Eindruck bestätigen, dass sich die Situation von Homosexuellen in ganz Russland verschlechtert habe, meinte Roth. "Und selbstverständlich wird ein solcher Eindruck, der von vielen Nichtregierungsorganisationen und von vielen Experten geteilt wird, auch Einfluss nehmen in die kontinuierliche Überarbeitung des Lageberichts" zu dem Land, der eine Grundlage für das BAMF bei Asylverfahren biete.
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LSVD: Merkel muss sich bei Putin einsetzen
Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) lobte am Mittwoch in einer Presseeklärung die "Bemühungen der Bundesregierung, den erschütternden Berichten aus Tschetschenien über die Verfolgung von Homosexuellen nachzugehen und auf Aufklärung durch die russischen Behörden zu drängen". Der Verband verwies darauf, dass das russische LGBT Network, das Betroffenen aus der Region derzeit bei der Flucht hilft und dazu um Spenden bittet, darauf hoffe, diese Flüchtlinge ins Ausland weitervermitteln zu können, gerade weil diese auch in Russland nicht sicher vor weiterer Verfolgung seien.
"Deutschland muss gefährdete Personen aus Tschetschenien schützen, ihnen die Aufnahme anbieten und die Visa-Vergabe für Betroffene lockern", forderte daher LSVD-Sprecherin Uta Schwenke. "Die deutschen Konsulate und die deutsche Botschaft müssen dementsprechend angewiesen werden." Die Kontaktaufnahme zu Betroffenen durch die Deutsche Botschaft sei zu begrüßen.

Der russische Präsident Wladimir Putin (l.) lässt seinen "Statthalter" in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, bislang in der Regel kritiklos gewähren – Einsatz von Milizen, Morde und Folter eingeschlossen
Erneut forderte der LSVD – wie auch eine Online-Petition von "Enough is Enough", Quarteera und dem Aktionsbündnis gegen Homophobie -, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel beim ihrem Besuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin am 2. Mai in Sotschi das Thema ansprechen müsse und sich "nicht mit scheinheiligen Demintis abspeisen lassen" dürfe: "Merkel muss auf die sofortige Freilassung aller verschwundenen Männer, das Ende der brutalen Verfolgung, die lückenlose Aufklärung der Vorkommnisse sowie die Strafverfolgung für Täter bestehen."
Die Unabhängigkeit der inzwischen eingeleiteten Ermittlungen der förderalen Staatsanwaltschaft müsse garantiert werden, so der LSVD. Die "Novaya Gazeta" hatte am Montag berichtet, Beweisemittel und Unterlagen an einen erfahrenen und engagierten Ermittler übergeben zu haben, dessen Erfolgsaussichten aber vom politischen Willen abhängig seien (queer.de berichtete).
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