Judith Butler ist die Ikone der Queertheorie. In ihrem neuesten Werk "Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung", erschienen Ende 2016 im Berliner Suhrkamp Verlag, widmet sie sich der Versammlung.
Versammlungen können vielfältiger Art sein – und sie bestimmen einen Zweck, der über sie hinaus weist. Sie wollen etwas bewegen und Macht beanspruchen. Das ist für Butler Performativität, die im Titel des Buchs benannt wird.
Die Philosophin hatte sich in den vergangenen Jahren zunehmend ethischen Fragen zugewandt. Mit diesem Werk führt sie die geschlechter- und sexualpolitischen Themen, mit denen sie ihren weltweiten Ruf als theoretische Begründerin der Queerbewegung erlangte, mit den ethischen Fragen zusammen. Butler verfolgt nach eigenem Anspruch damit das Ziel, daran mitzuwirken, dass sich "Allianzen zwischen verschiedenen als verfügbar erachteten Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen" bilden.
Das Zeitalter der Prekarität
Diese Allianzen, also Bündnisse, seien Butler zufolge notwendiger denn je, da wir im Zeitalter der Prekarität lebten. "Dieser in der Regel von Regierungs- und Wirtschaftseinrichtungen angestoßene Prozess gewöhnt die Bevölkerung allmählich an Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit, er gliedert sich in Institutionen der Leiharbeit, der gestrichenen Sozialleistungen und des Abbaus der noch letzten noch wirksamen Reste der Sozialdemokratie zugunsten unternehmerischer Modalitäten, für die, gestützt auf wilde Ideologien individueller Verantwortung, das höchste Lebensziel in der Verpflichtung liegt, den eigenen Marktwert zu maximieren."
Dieser voluminöse Satz zeigt eine stärkere Beschäftigung mit ökonomischen Fragestellungen an, die Butler mit Fragen zur Bestimmung von Subjektivität im Sinne Foucaults verbindet. Hatte sie mit ihrem Queeransatz zu Beginn der Neunzigerjahre noch konsequent ökonomische Fragen vermieden, gesellschaftliche Strukturen ideengeschichtlich umschifft und sprachtheoretische Vorstellungen in den Vordergrund gerückt, so wendet sie sich nun einem Thema zu, dass zu Ende des vorvorletzten Jahrhunderts zur Bildung einer politisch geschulten Arbeiterklasse führte.
Viel Richtiges steht neben sehr viel Unkonkretem
Judith Butlers Buch ist auf Deutsch im Berliner Suhrkamp Verlag erschienen
Doch gerade das spricht Butler so nicht aus. Sie diskutiert im vorliegendem Band diese Thematik in Auseinandersetzungen mit anderen Philosoph_innen wie Emmanuel Levinas, Agnes Heller oder Hannah Arendt. Dabei streift sie viele Themen – vom Einsatz des Körpers im Hungerstreik über den Bezug auf ein "Volk" und die damit ausschließenden Momente bis zur Beschreibung, dass die "tägliche Erfahrung des Neoliberalismus das Gefühl eines beschädigten Lebens hinterlässt".
Judith Butler versteht dieses Buch und ihr Engagement als einen "radikaldemokratischen" Eingriff. Sie möchte wachrütteln und zum Handeln anregen. Doch der hier vorgelegte Versuch einer Synthese ihrer Ansätze verbleibt für mich im Nebulösen. Viel Richtiges steht neben sehr viel Unkonkretem, und obwohl sie zu Beginn des Buches sogar auf die Pegida-Demonstrationen verweist, fehlt ihr ein präziser Blick für die Gefahr einer Massenmobilisierung von Rechts. Denn gerade rechte und extrem rechte Parteien und Bewegungen kritisieren heutzutage ebenso den Neoliberalismus und spielen gegenüber den Abgehängten die soziale Karte. Ökonomiekritik muss präziser werden und kann nicht nur eine vage Kritik am Neoliberalismus sein.
Judith Butler fehlt ein Kompass. Gerade dort, wo sie auf konkrete Initiativen Bezug nimmt, muss man ihr vehement widersprechen. Mehrfach nimmt sie positiven Bezug auf Kampagnen zum Boykott israelischer Waren, bezeichnet das israelische Engagement für Lesben und Schwule als "Pinkwashing", während sie den palästinensischen Widerstand auf geradezu skurrile Weise lobt. Während Butler in der westlichen Welt Rassismus brandmarkt, ist ihr der Rassismus und die Homosexuellenfeindschaft von Muslimen keine Silbe wert. Antisemitismus blendet sie wieder einmal komplett aus. Schlimmer noch, sie bedient indirekt antisemitische Stereotype. Wie kann man das Engagement von Hannah Arendt ohne deren Antisemitismus-Analysen verstehen?
Die Leistungen von Judith Butler zur kritischen Hinterfragung von Geschlecht und Sexualität sind groß. Ihr Aufruf, sich ökonomischen Fragen zuzuwenden und Bündnisse zu schließen, ist gut. Doch die in ihrem neuen Buch anklingenden politischen Implikationen sind halbgar bis gefährlich.
Infos zum Buch
Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Aus dem Amerikanischen von Frank Born. 312 Seiten. Suhrkamp Verlag. Berlin 2016. 28 €. (ISBN 978-3-518-58696-9). E-Book: 23,99 €
Ich lese ja normalerweise vorzugsweise Werke aus dem Bruno Gmünder Verlag, aber das klingt doch insgesamt recht ansprechend und spannend! Endlich mal was anderes!