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Grauen in Grosny
Tschetschenien: Erneute Verfolgung schwuler Männer befürchtet
Laut Auswärtigem Amt und russischen NGOs gibt es erste Berichte, wonach in den letzten Tagen eine erneute Verfolgungswelle eingesetzt haben könnte.

Protest gegen die Verfolgungswelle an schwulen Männern in Tschetschenien am 1. Mai in St. Petersburg
- 6. Juli 2017, 16:14h 4 Min.
Das Auswärtige Amt hat sich am Mittwoch besorgt gezeigt über die Lage schwuler Männer im Nordkaukasus. "Uns erreichen Berichte über die Wiederaufnahme der Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien", schrieb Europa-Staatsminister Michael Roth in einer Pressemitteilung. "Sollten sie zutreffen, wäre das ein Schock für uns alle."
Der verpartnerte SPD-Politiker aus Hessen betonte, Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung seien leider immer noch viel zu häufig an der Tagesordnung, auch in Europa. "Aber hier geht es um eine ganz andere Dimension des Leids." Menschen dürften nicht um ihr Leben fürchten müssen, weil sie homosexuell sind. "Von der russischen Regierung erwarten wir, dass Verfolgte geschützt werden und die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen werden."
Im April war durch – später von "Human Rights Watch" bestätigten – Recherchen der Zeitung "Novaya Gazeta" bekannt geworden, dass in Tschetschenien über 100 Männer wegen des Verdachts der Homosexualität in mehrere inoffizielle Gefängnisse verschleppt und dort gefoltert worden sind, um sie zu "erziehen" und um die Namen weiterer Schwuler zu erfahren. Im Vergleich zu ebenfalls inhaftierten Drogennutzern oder Oppositionellen seien die Beamten besonders brutal vorgegangen. Einige Menschen starben bei der Prozedur oder wurden, nach der Übergabe durch die Behörden an sie, durch Verwandte getötet.
Mehrere hundert Männer betroffen

Igor Koschetkow (r.) vor einigen Jahren in St. Petersburg bei einem Protest gegen das Gesetz gegen Homo-"Propaganda"
Igor Koschetkow vom russischen LGBT Network, das die Hilfsaktionen für Betroffene aus der Region koordiniert, hatte bereits in den letzten Tagen in Interviews und auf einer Konferenz in Paris die Befürchtung geäußert, dass es wieder zu einer Verfolgung komme. Nach Ende des Ramadans habe man eine Zunahme entsprechender Anrufe auf der Hilfs-Hotline erhalten. "Es gibt Anzeichen dafür, dass die Verfolgung wieder aufgenommen wurde", so Koschetkow am Donnerstag, man müsse die Berichte aber weiter prüfen und zusätzliche Informationen sammeln.
Nach Informationen des LGBT Network habe die Verfolgungswelle im Frühjahr mehrere hundert Männer betroffen, sie seien in insgesamt sechs verschiedene Gefängnisse außergesetzlich verschleppt worden. Mindestens sechs von ihnen lebten inzwischen nicht mehr. Nach vor allem internationalen Druck war die Verfolgung im Mai ausgesetzt worden, auch wurde ein von der "Novaya Gazeta" benanntes Gefängnis in Argun geräumt. Das Magazin "Vice" veröffentliche vor zwei Wochen eine Reportage aus dem Gebäude und sprach mit Verantwortlichen, die die Taten weiter abstritten (queer.de berichtete).
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Die Flucht und die Unterstützung gehen weiter

Michael Roth hatte Ende April auch im Bundestag kurz zur Lage in Tschetschenien Stellung bezogen (queer.de berichtete)
Das LGBT Network, das für die Hilfsaktionen weiter Spenden sammelt (deutsches Konto), versucht, Betroffene aus der Region zunächst in anderen Regionen Russlands unterzubringen – aus einer Notunterkunft des Verbands in Moskau gaben etwa einige Überlebende der Folter Interviews an internationale Medien.
Da die Menschen aber auch dort nicht sicher seien, versucht der Verband, sie ins Ausland zu vermitteln. So hatten Litauen und Frankreich sowie einige nicht öffentlich benannte Länder in den letzten Wochen Schwule aus der Region aufgenommen. Deutschland ließ im Juni den ersten Flüchtling über ein humanitäres Visum einreisen, in der letzten Woche erklärte das Land Berlin, insgesamt fünf Menschen unbürokratisch aufnehmen zu wollen (queer.de berichtete). Dieser Schritt ist selten; in der Regel erhalten Menschen, die nach Deutschland flüchten könnten, kein Visum.
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Es sei "besonders froh", dass Deutschland inzwischen drei Betroffene aus Tschetschenien nach Deutschland holen konnte, meinte Staatsminister Roth am Mittwoch in seiner Pressemitteilung. "Weitere Betroffene sind in Kontakt mit unserer Botschaft in Moskau. Wir werden uns weiterhin nach Kräften für die Verfolgten einsetzen." Es sei dankbar für die enge Zusammenarbeit mit weiteren Staaten – es dürfe kein Lippenbekenntnis bleiben, "dass wir in Europa in bunten, liberalen und offenen Gesellschaften leben".
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte die Lage von LGBTI in Tschetschenien Anfang Mai auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin angesprochen (queer.de berichtete). Später forderte auch Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron Aufklärung und einen Stopp der Verfolgung (queer.de berichtete). Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte sich bei einem Besuch in St. Petersburg mit Vertretern des LGBTI Network getroffen. Als Erfolg wurde angesehen, dass die föderale russische Staatsanwaltschaft Vorermittlungen aufnahm – nach einem Austausch des engagierten Ermittlers scheinen diese aber bereits wieder zu stocken. (nb)
Update 19.15h: Aufruf an G-20-Gipfel
In einer gemeinsamen Pressemitteilung der internationalen Organisation All Out und des russischen LGBT Network haben die Aktivisten die Politiker des G20-Gipfels dazu aufgerufen, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einem sofortigen Stopp der Verschleppungen aufzurufen und eine unabhängige Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen zu ermöglichen. Durch die Hotline des Networks habe man "glaubwürdige Berichte" erhalten, dass "eine neue Welle illegaler Verhaftungen von schwulen Männern" in Tschetschenien begonnen habe.
Mehr zum Thema:
» Alle queer.de-Berichte zu Tschetschenien
















Dass Putin seinem Schergen Kadyrow für dessen Gewalttaten - bis hin zur Ermordung mißliebiger Oppositioneller (Anna Politkowskaja, Boris Nemzow) -
freie Hand lässt, dürfte sich doch bis zur Bundesregierung herumgesprochen haben, oder? Sollen also solche stumpfen moralischen Appelle einen notorischen Brandstifter dazu bringen, sich doch bitte als Feuerwehrmann zu betätigen?