Eine Stuttgarter Institution ist in Gefahr: Die Buchhandlung Erlkönig in der Nesenbachstraße 52 wurde 1983 eröffnet (Bild: Erlkönig)
Hallo Welt!
Nenne ich dies nun "Bekanntmachung" oder "Offener Brief", "Hilferuf" oder "S.O.S."? Oder sollte ich es "Coming-out" nennen?
Ich glaube, das passt: Denn ähnlich unangenehm war mir ein "Bekennen" letztmalig im Oktober 1975. Da hatte meine Mutter beim "Aufräumen" (oder "Schnüffeln?") in meinem Zimmer die erste Ausgabe der "Du & ich" gefunden, die ich mir ein paar Tage zuvor schwer ohnmachtgefährdet in einem Kiosk am Bahnhof Feuerbach gekauft hatte. In Degerloch hätte ich mir sie nicht kaufen können, da wohnte ich ja. Am Olgaeck ebensowenig, das war in der Nähe der Waldorfschule, und x Mitschüler/innen hätten mich sehen können…
Meine Mutter fand es also, das Magazin, "entsorgte" es im Mülleimer, nicht ohne es vorher in kleine Streifen zerrissen zu haben, falls denn bei der Müllabfuhr jemand… Und bat mich mit verheulten Augen darum, ihr zu sagen, "dass das nicht stimmt!" Und ich heulte auch ein bisschen, verwarf dann aber Gedanken an Selbstmord oder Auswandern und ging hoch in die Küche und sagte zu meiner Mutter: "Doch. Es stimmt. Ich bin schwul!" Dann wurde gemeinsam geflennt. Der Anfang einer langen Geschichte, die dann besser wurde…
Wenn sich nichts ändert, müssen wir zumachen!
Jetzt, eine Woche, nachdem der Erlkoenig 34 Jahre alt geworden ist (traditionsgemäß habe ich das gar nicht gemerkt, aber ich vergesse auch meinen eigenen Geburtstag öfter mal…), gehe ich jetzt hoch in die "Gerüchte"-Küche und sage: "Doch. Es stimmt. Wenn sich nichts ändert, müssen wir zumachen!"
Eines der ersten Argumente meiner Mutter damals war: "Das kann sich ja auch noch ändern". Sie hat das wohl selbst nicht geglaubt, und ich wusste es besser. Ausgesprochen filmreife erste heterosexuelle Erfahrungen hatte ich hinter mir, und sie waren nur insofern hilfreich, als ich danach eben wusste, was ich NICHT will…
Dieses Artikelchen, das ich übrigens selbst auch anderweitig "verbreiten" werde, und das zu teilen oder sonst anderweitig zu verbreiten ich euch alle inständig bitte, macht allerdings nur Sinn, weil ich eine gewisse Hoffnung habe, dass das "wenn sich nichts ändert" weniger hoffnungslos ist als der Einwand meiner Mutter, "das" könnte sich ja auch "rauswachsen".
Die Fakten:
Neben Eisenherz in Berlin und Löwenherz in Wien ist der Erlkoenig der letzte "schwule Buchladen" im deutschsprachigen Raum. Wir/ich waren noch nie gefährdet, damit reich zu werden. In den "besseren Zeiten" kam man grade so zurecht. Die "besseren Zeiten" sind vorbei. Seit Jahren überleben wir nur, weil ich selbst Geld reinstecke, dass ich z.B. geerbt habe. Das ist jetzt aber verbraucht. Futsch! Die Ladenumsätze sinken weiter. Die Umsätze über unseren Internetshop steigen, aber nicht so, dass es zusammen reicht.
Ich habe "Fakten" gesagt und es wird diese Fakten ab jetzt regelmäßig geben. Ich werde Zahlen nennen und ich werde darüber mit euch zu diskutieren versuchen, woran es liegt.
Die ersten blanken Zahlen: Wir bräuchten, um unsere Ladenmiete zu zahlen und zwei Leute auf einem Niveau, dass "existenzsichernd" ist (und nicht mehr!) zu bezahlen, ca. 15.000 € Umsatz im Monat. Aktuell sind es ca. 10.000 €. Es fehlen also 5.000 € monatlich.
Was heißt das?
Stuttgart alleine könnte das machen, indem von den ca. 20.000 Menschen, die hier in irgendeiner Form der LSBTTIQ-Community angehören (5% von 600.000 sind 30.000, wir ziehen mal Kinder und ein paar andere ab), jede/r im Monat 0,25 € ausgibt. Also z.B. alle vier bis fünf Monate eine Postkarte kauft.
Unrealistisch? Ja klar. Aber es würde ja auch reichen, wenn 10% der "LSBTTIQ"-Menschen in Stuttgart 2,50 € im Monat bei uns lassen würden. Drei Taschenbücher im Jahr oder einen Kalender und drei Regenbogenaufkleber. Oder ein einziges teures Fachbuch (das bei uns, wie in jeder Buchhandlung, genau das Gleiche kostet wie irgendwo). Oder zwei Bilderbücher für den Neffen oder die Enkelin, ein Kochbuch für die Mama (wir besorgen JEDES lieferbare Buch, jeden lieferbaren Film, und wir besorgen, wenn es geht, auch alles, was nicht mehr regulär lieferbar ist!)
Anderer Ansatz:
Mit unserem Internetshop, von dem ich behaupte, dass er zum Besten gehört, was es in der Beziehung weltweit gibt, machen wir aktuell knapp 1.500 € Umsatz im Monat. Etwa die Hälfte davon generieren ca. 5-10 Stammkund/innen, die offensichtlich zufrieden sind. Mir ist schon klar, dass es nicht Tausende von Schwulen und Lesben gibt, die im Monat 150 Euro für Bücher oder Filme ausgeben und die dann auch noch bei uns bestellen, aber es würde uns ja schon über die "so-geht-es-nicht-mehr-weiter"-Schwelle helfen, wenn aus den 5-10 Leuten, die unser Angebot grade so intensiv nutzen, z.B. 50 oder 80 würden. Grob gesagt: Eine/r pro eine Million Einwohner in Deutschland! Habe ich vergessen zu erwähnen, dass wir auch in die Schweiz verschicken, nach Spanien, nach Island, nach Taiwan, nach Costa Rica?
Für heute ist die Tirade am Ende. Wie gesagt: Ich bitte ausdrücklich darum, diesen Beitrag zu teilen. Es ist, daran geht dann doch kein Weg vorbei, ein "Hilferuf".
Ein letztes noch: nein, wir WOLLEN nicht schliessen. Wir gehen nicht freiwillig! Deshalb dieses Coming-out, bevor es "ausgemacht" ist. Aber wir MÜSSSEN, wenn sich nichts bewegt…
Ich danke für die Aufmerksamkeit. Und ich danke auch für Kommentare, Kritik und Ideen. I declare this bazaar open!
P.S.:
Als Max & Milian in München 2011 Insolvenz anmeldet und schliessen muss, sagt ein Kommentar auf maennerschwarm.de: "So bleibt uns allen vor allem eine Option: Männerschwarm, Eisenherz und Erlkönig mit noch mehr Tatkraft und vor allem Umsatz zu unterstützen. Diese Buchläden sind in meinen Augen mehr als nur reine Buchhandlungen (und damit Wirtschaftsunternehm en): Sie sind schwules – und mittlerweile auch lesbisches – Kulturleben!!!"
Ich finde, das stimmt so. Mir ist klar, dass viele darüber anders denken, und ich kann das auch teilweise nachvollziehen. Wenn ALLE so denken, war's das dann.
Jeder einzelne Kunde hat es selbst in der Hand, die weitere Konzentration im Einzelhandel zu fördern oder etwas dagegen zu tun.
Ich hoffe, dass alles gut geht.